Bonusland. Götz Nitsche
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Dankbar für die Tatsache, dass ich einen Kopf größer bin als die meisten Ticos, griff ich über die Köpfe hinweg nach dem Geländer unseres Beförderungsmittels und verteilte meinen Moschusduft an die Mitfahrer. Wie die Würstchen im Glas schossen wir kurz darauf über die Panamericana, durchgeschüttelt bei dem verzweifelten und erfolglosen Versuch, die zahllosen Schlaglöcher dieser Sehnsuchtsstraße zu umkurven. Meine Sehnsucht bezog sich in diesem Augenblick allerdings eher auf das Ziel meiner Reise. Nein, nicht der Weg war in diesem Fall mein Ziel, sondern das verdammte Ziel. La Libertad. Hupend und fluchend überholten wir und wurden überholt, schossen um Haaresbreite an entgegenkommenden Autos vorbei und hielten alle paar Kilometer an, um einen Passagier auszuspucken oder noch einen quer reinzuschieben.
Ich stellte bald fest, dass neun von zehn Pkw in El Salvador Pickups sind. Es sind die Autos einfacher Menschen, Bauern zumeist, in der Regel die Grundbesitzer, die etwas mehr Vermögen haben als die einfachen Landarbeiter. Sie lesen bei jeder Leerfahrt am Straßenrand wartende Menschen auf, denen der Bus zu teuer oder zu langsam ist, bis kein Löschpapier mehr dazwischen passt, das nicht in drei Sekunden schweißgetränkt wäre. Ich war froh, als der Fahrer endlich für uns anhielt.
Im Hostel pulte ich die Reste meiner Socken von den Zehen und schätzte mich glücklich, dass ich mich ohne die Hilfe einer Fleischerschere aus der Hose befreien konnte. Mit einem Jauchzer der Erleichterung sprang ich, nur mit der durchgeschwitzten Unterhose bekleidet, in den Pool. Und da blieb ich erst mal sitzen – für volle drei Tage.
An meinem zweiten Abend war ich so weit abgekühlt, dass ich mir bei einem Cuba Libre langsam Gedanken über meine Situation machen konnte. Ich war da, das begriff ich allmählich. Ich war im Abenteuer angelangt. Es hatte mich gefunden, kaum dass ich einen Fuß auf den Boden Mittelamerikas gesetzt hatte. Ich war per Anhalter die Panamericana entlanggebraust. Mit nichts außer den Kleidern, die ich auf dem Leib trug, und der Kreditkarte, die ich natürlich im Handgepäck bei mir hatte. Der freundliche Hostel-Besitzer hatte ein Herz für meine Situation, was gut war, denn ein Kreditkarten-Lesegerät hatte er nicht. Er vertraute darauf, dass ich irgendwann schon würde bezahlen können. Was uns verband, war vor allen Dingen unsere Liebe zu El Salvador und zu Rum mit Cola. Gutgelaunt servierte er mir ein weiteres Glas direkt an den Pool.
Ich befand mich inmitten einer Geschichte, die ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt hätte. Und gleichzeitig fühlte ich mich auf seltsame Art leer. Ich war allein. War es das nicht, was ich wollte? Irgendwie fühlte es sich anders an, als wenn man als Teenager auf das Fußballspiel im Hof verzichtet, um in Ruhe ein Buch zu lesen. Ich war nicht nur allein, ich war einsam. Ich sehnte mich plötzlich nach einem vertrauten Umfeld, nach Menschen, die ich kannte, nach Sicherheit. Und auf der anderen Seite, redete ich mir ein, sollte das eigentliche Abenteuer endlich beginnen. Stattdessen saß ich den ganzen Tag nur im Pool.
Aber genau da lag das Problem: der Pool – und sonst nichts. Das Einzige, womit ich mich auseinandersetzen musste, war der schnellste Weg von meinem Bett zum Pool und zurück. Nicht, weil es nötig gewesen wäre, morgens eine Liege zu reservieren, denn zusammen mit dem anderen Deutschen war ich der einzige Gast im Hostel. Nein, ich hatte aufgrund der aggressiven, blutsaugenden Moskitos ein Bedürfnis, schnellstmöglich zwischen Wasser und Schlafgemach zu wechseln. Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, gerade dann am aktivsten zu sein, wenn die Sonne unterging und man den Pool verließ, um die Reste seiner verschrumpelten Haut in wärmenden Stoff zu wickeln.
Das Resultat blieb jedoch dasselbe: Nur zwei Tage nach meiner abenteuerlichen Ankunft im El Salvador fühlte ich mich wie ein Pauschalurlauber auf Gran Canaria. Etwas musste sich ändern. Nur was? Das Abenteuer genügte mir nicht, doch gleichzeitig wuchs es mir über den Kopf. Ich war einsam, wollte aber dennoch endlich losreisen. Ich musste feststellen, dass ich vor der Abreise keine Ahnung gehabt hatte, wie sich eine solche Reise anfühlen würde.
* * *
Am dritten Tag geschahen zwei erwähnenswerte Dinge. Zum einen rief ein Mitarbeiter des Flughafens an. Die Frau des Hostelbesitzers – eine nette junge Einheimische – ging an den Apparat.
»Sie haben eine gute und eine schlechte Nachricht«, rief sie mir zum Pool herüber. Eine schlechte Nachricht? Hoffentlich war das Gepäck noch vorhanden. Nervös eilte ich zu ihr.
»Sie haben dein Gepäck gefunden«, sagte sie strahlend.
»Und was ist die schlechte Nachricht?«, fragte ich misstrauisch.
»Nun ja«, sagte sie. »Es ist in Mexiko.«
In Mexiko? Bei meinem Umstieg in Panama mussten die Mitarbeiter etwas verwechselt haben. Vollidioten, dachte ich grimmig. Ich fand, ich durfte das denken, denn ich legte auch an meinen eigenen Handlungen einen strengen Maßstab an. Manch einer würde behaupten, ich sei ein Streber. Ich hatte immer die besten Noten, trieb täglich Sport, verstand mich mit den Lehrern. Und ich hätte nie im Leben ein Gepäckstück, auf dem San Salvador steht, nach Yucatán geschickt. Vollidioten! Immerhin versprachen sie, es mit dem nächsten Flieger nach El Salvador zu bringen und mir zuzustellen.
Das zweite erwähnenswerte Ereignis war die Ankunft von Clara. Clara war meine beste Freundin aus Studienzeiten, die zufällig für die ersten paar Wochen in der Nähe war, wenn man denn Los Angeles als Nähe bezeichnen wollte. Sie hatte Lust auf einen Abstecher nach Süden, und ich war ehrlich gesagt froh, dass ich mein Jahr allein zu zweit beginnen konnte. So viel zu meinem gespaltenen Verhältnis zu dieser Reise. Ich wollte das Abenteuer. Ich wollte allein reisen. Aber insgeheim schlackerten meine Knie vor Angst. Also hatte ich Clara für die ersten drei Wochen eingeladen, mit mir durch Mittelamerika zu reisen. Sie gesellte sich zu mir in den Pool und war fest entschlossen, ihren Rückstand an Cuba Libres noch am selben Tag aufzuholen.
Clara gehört zu der Sorte Frauen, die um vier Uhr früh, wenn der Club zumacht, noch darauf besteht, vor dem Schlafengehen eine Rum- oder Schnapsverköstigung in ihrem Wohnheim durchzuführen. Ich habe mehr selbst kreierte Toffifee- und Nutella-Eierliköre bei ihr zu mir genommen als vollwertige Mahlzeiten und war daher nicht überrascht, dass sie zur Begrüßung einen 57-prozentigen Schnaps mitbrachte. Clara war da, und mein Gepäck kam am nächsten Morgen! Ich war unendlich erleichtert, wegen beidem. Und dennoch hätte ich niemals zugegeben, dass ein Pauschalurlaub mit Freunden auch seinen Reiz hat. Es rief das Abenteuer! Endlich konnte die Reise beginnen!
Guatemala und der Typ mit dem Rad
Wir reisten ein wenig durch El Salvador, erkundeten das Land von der Küste bis in die Berge. Es hatte optisch keine wirklichen Highlights zu bieten, alles sah irgendwie gleich aus, und auf jedem saftigen, grünen Blatt lag eine Schicht aus dickem Staub. Dennoch fand ich es auf eine dreckige Art charmant. Ich war zufrieden, so wie es lief. Ich konnte Clara ein bisschen beeindrucken, als ich, ohne zu zögern, auf die Ladefläche eines Pick-ups kletterte und ihr die Hand reichte. »Das machen die hier so«, sagte ich. »Alles easy.« Es war die richtige Portion Abenteuer, häppchenweise dosiert. Mal hörten wir eine Geschichte, dass einem anderen Reisenden der Pass geklaut wurde, mal wurde der Backpacker im Bungalow neben uns von einer giftigen Spinne gebissen. Das Abenteuer war da, aber die schlechten Dinge passierten den anderen. Wenn wir reisen wollten, winkten wir einfach einem der zahllosen Busse, die im halsbrecherischen Tempo über die Straßen donnerten, und reisten für wenige Dollar durchs halbe Land. Abends liefen wir im Zentrum, völlig egal in welcher Stadt, einfach durch die Gassen, und nach wenigen Minuten bot uns jemand ein Gästezimmer an. Wenn wir Hunger hatten, war der nächste Imbiss nicht weit. Das Reisen war so einfach, und dennoch erschien es wie ein großes