Bonusland. Götz Nitsche

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Bonusland - Götz Nitsche

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durch Mittel- und Südamerika und dann – mal sehen. Denn sie würde schon nicht weglaufen, meine Zukunft. Ich konnte damals ja nicht ahnen, dass ich nur wenige Monate später mein gesamtes Hab und Gut auf einem Gepäckträger durch Neuseeland transportieren würde.

      Doch da bin ich nun. Hinter mir ein Hang und vor mir der nächste. Zu meiner Rechten rollen die Wellen der Tasmanischen See so wild herein, dass jeder Schlag auf die Küste wie Donner zu mir heraufrollt. Links verstecken sich die höchsten Gipfel der Südalpen im Nebel. Im ständigen Wechselspiel der Wolken wirken die steilen Hänge wie das Tor zu einer anderen Welt. Wobei die schroffe Schönheit der Westküste mich heute nicht berühren kann. Zumindest dringt sie nicht bis in meine Seele vor, nur an meinem Fahrrad rüttelt und zerrt sie mit ihren Elementen, als wollen mich diese verschlingen und nie wieder loslassen. Die Schönheit berührt mich nicht, aber sie wirft mich um.

      Jetzt beginnt es auch noch zu regnen. Doch lieber fahre ich durch den Regen, als dass ich wie ein begossener Pudel am Straßenrand stehe. Meine Regenjacke habe ich ohnehin schon an, also fahre ich einfach weiter. Es ist die einzige Jacke, die ich dabeihabe. Ihre Nähte lösen sich auf, die Versiegelungen haben sich schon lange verabschiedet, und trotz der Kälte klebt sie an meinem verschwitzten Rücken, denn sie ist so atmungsaktiv wie ein Fisch in der Wüste.

      Jetzt schwitze ich sie voll, während von oben der Regen auf mich herunterprasselt. Wasser von beiden Seiten. Und dieser Berg hat es in sich. Seit Wochen habe ich das Gefühl, dass ich nichts anderes tue, als Berge zu bezwingen. Ich bin inzwischen etwa 2000 Kilometer gefahren und bewältige mühelos 100 Kilometer am Tag. Flaches Terrain ist rar in diesem Land, und ich bin es gewohnt, dass Anstieg auf Anstieg folgt. Aber dieser hier schafft mich. Wieder drängt sich mir unweigerlich diese Frage auf: Warum tue ich mir das an?

      Ich könnte längst gutes Geld verdienen. Drei Monate Reisen hätten vielleicht doch genügt, warum bin ich noch immer unterwegs? Ich könnte den Frühling in Deutschland genießen. Doch anstatt mich an den länger werdenden Tagen der Nordhalbkugel zu erfreuen, kämpfe ich mich durch den neuseeländischen Herbst. Ich lebe auf der Straße. Nachts idealerweise neben ihr oder auch darunter, wenn sich eine schützende Brücke findet. Ich wasche mich in Flüssen und koche mein Essen auf einem wackeligen Campinggerät. Wenn ich durch eine größere Stadt fahre, stocke ich meine Vorräte auf. Wenn ich mal mit Menschen ins Gespräch komme, bin ich nach kurzer Zeit heiser, denn meine Stimmbänder haben sich längst an das Schweigen gewöhnt. Und wenn ich dann mal die Gelegenheit finde, mit der Welt, die ich zu Hause zurückließ, in Kontakt zu treten, dann lese ich von Studienfreunden, die längst die Weichen für ihre Karriere gestellt haben. Darum müsste ich mich auch mal kümmern. Ein Einstieg bei einem der großen Energieversorger wäre vielleicht nicht schlecht. Warum zögere ich es hinaus, indem ich den Arsch der Welt mit meinem Arsch auf dem Fahrrad erkunde?

      Nach dem Abschluss des Diploms erschien es mir wie die letzte Gelegenheit vor der Rente, noch mal ein Abenteuer zu erleben. Einmal um die Welt, dem Sommer hinterher. Sommer, denke ich sehnsüchtig. Das war der Plan gewesen. Was mache ich also im neuseeländischen Herbst ohne eine ordentliche Jacke, auf einem Fahrrad in diesem unwirtlichen Landstrich?

      Ich kämpfe gegen den Wunsch an, das hier alles abzubrechen. Das Fahrrad die Klippe hinunterzustoßen und zum nächsten Flughafen zu trampen. Mich dort in ein warmes Hotel einzubuchen und am nächsten Tag nach Hause zu fliegen. Ich könnte für ein paar Monate bei meinen Eltern unterkommen und bald mein eigenes Geld verdienen. Endlich finanziell unabhängig sein. Endlich eine eigene Wohnung haben. Endlich arbeiten.

      Nein!, denke ich unvermittelt. Das will ich nicht!

      Mit einem Mal wird mir klar, dass diese Reise viel mehr ist als ein letztes großes Abenteuer. Ich will kein Ingenieur sein. Ich will keinen Job im Büro. Ich will nicht von jetzt an bis zur Rente jeden Tag am Schreibtisch sitzen und immerfort dasselbe machen. Ich will nicht nach Hause zurück!

      Plötzlich beginne ich zu schreien. Ich schreie gegen den Regen, gegen den Berg, ich schreie dieses Leben in Grund und Boden. Wieder und wieder platzt es aus mir heraus, dass der Regen erschrocken zurückzuweichen scheint. Der gesamte Frust, der sich in mir aufgestaut hat, bahnt sich seinen Weg nach oben. Ich schreie, bis mir die Luft zum Radfahren fehlt. Schreie im Nirgendwo, die niemand hört außer ich selbst. Die Wolken verschlucken den letzten Ton, bevor er vom Berg widerhallt. Dieser verfluchte Berg, der nicht enden will, diese durchnässte Kleidung, die mich und meine Stimmung nach unten zieht. Und das Leben, das mich zu Hause erwartet. Darum, denke ich bei mir. Darum tue ich mir das an.

      Doch diese Erkenntnis bringt keine Erleichterung, im Gegenteil. Mit einem Mal spüre ich eine riesige Panik vor meiner Rückkehr. Und die Frage nach dem Warum weicht der Frage nach dem Wie. Wie konnte es nur so weit kommen?

      Eine große Reise

      Fünf Monate zuvor

      Seien wir doch mal ehrlich: Es existieren grundsätzlich zwei Arten zu reisen. Es gibt zum einen die Pauschalreise, in der man die Organisation einem Veranstalter überlässt, sich pünktlich mit der Reisegruppe am vereinbarten Ort einzufinden hat und ansonsten lediglich herausfinden muss, welches der kürzeste Weg vom Zimmer zum Pool ist.

      Zugegeben, es kann gute Gründe dafür geben, sich einer Reisegruppe anzuschließen. Wenn man den Everest besteigen will zum Beispiel. Oder wenn man sich einer Expedition in die Antarktis anschließt. Das wären ungünstige Orte, um sich zu verlaufen, das kann ich nicht abstreiten. Da wäre ein Gruppenführer hilfreich.

      Doch im November nach meinem Studium sah ich in dieser Art zu reisen keinen Reiz. Ich meine, hätte ich ein Angebot gefunden, mit meinem verfügbaren Budget bis auf den Everest oder an den Südpol zu gelangen, hätte ich vielleicht zugeschlagen. Da mir dies jedoch unwahrscheinlich erschien, zog mich die zweite Art zu reisen in ihren Bann: die Rucksackreise.

      Die Rucksackreise ist der coole Bruder der Pauschalreise. Auf einer Rucksackreise nimmt man die Organisation selbst in die Hand, kümmert sich vor Ort um die nächsten Ausflüge und Tagesetappen und sucht sich seine Unterkunft erst bei Einbruch der Dunkelheit. Die Rucksackreise ist der Profisurfer, die Pauschalreise ist der Nerd, der online Billabong-Klamotten shoppt.

      Hätte ich in jenem November eine geführte Reise angetreten, wäre ich mir vorgekommen, wie auf meinen ersten Partys als Student: Anstatt die geheimnisvolle Hübsche anzusprechen, die den Reiz des Abenteuers ausstrahlte, machte ich dort eher mit der molligen Freundin der Hübschen herum. Ich meine, die Mädchen sahen schon okay aus, und am Ende war es definitiv besser, als wenn ich zu Hause geblieben wäre. Aber im Grunde war es dieselbe Routine wie sonst auch immer, und am nächsten Morgen blieb die Frage: Was wäre gewesen, wenn?

      Nein, dieses Mal suchte ich unbedingt das Abenteuer. Also packte ich meinen Rucksack mit nichts als Kleidung für den Sommer und kaufte ein Ticket nach Mittelamerika.

      Meine Mutter fiel aus allen Wolken, als sie begriff, wie lange ich wirklich vorhatte zu reisen.

      »Ein Jahr?«, fragte sie. »Ein ganzes Jahr? Welcher Arbeitgeber soll dich denn dann noch wollen?«

      Ich zuckte mit den Schultern. Den Gedanken wollte ich nicht an mich heranlassen. Ich sah das so: Für einen Chef, der ein Problem damit hatte, dass ich nach dem Studium erst mal für ein Jahr die Welt erkundete, wollte ich ohnehin nicht arbeiten. Ansonsten würde ich mir darüber Gedanken machen, wenn ich zurückkäme.

      »Sicher, dass drei Monate nicht reichen?«, fragte sie.

      »Vielleicht werden es auch zwei Jahre«, gab ich zurück. Denn jetzt, unmittelbar vor dem Start ins Berufsleben, hatte ich das Gefühl, dass mir womöglich zum letzten Mal das kostbarste Gut

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