Bonusland. Götz Nitsche
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»Irak, Iran, das sind wunderschöne Länder«, schwärmte sie. »Und die Menschen sind so unglaublich gastfreundlich.« In Pakistan sei ihr einmal die Tasche mit ihrem Werkzeug gestohlen worden. »Aber«, sagte sie, »das war Pech. Das hätte ebenso gut schon in England passieren können.« Daraufhin hatte sie alles in einem britischen Online-Shop nachbestellt und mehrere Wochen gewartet, bis die Ausrüstung eintraf.
»Das dürfte eine ganze Weile gedauert haben«, sage ich. Sie zuckte mit den Schultern.
»Zeit ist eigentlich nicht mein Problem.«
Ich lachte und nickte verständig, denn Zeit hatte ich schließlich auch. Und dennoch konnte ich mir in dem Moment noch nicht einmal ansatzweise vorstellen, was sie damit eigentlich meinte. Denn ich war einfach in ein Flugzeug gestiegen, um weniger als einen Tag später auf einem anderen Kontinent, acht Zeitzonen entfernt, in einem Pool zu liegen und die Zeit zu genießen, während ich andere Menschen dafür arbeiten ließ, mein Gepäck wiederzufinden. Das war kaum drei Wochen her gewesen, in demselben Land, in dem ich mich immer noch befand, beinahe sogar in derselben Stadt. Diese Frau hingegen, wie sie vor mir stand in ihrer Radlerhose und mit dem Dreck der Panamericana auf der Stirn, kam aus derselben Ecke der Welt wie ich, zumindest von unserem derzeitigen Stand-punkt aus betrachtet. Doch sie hatte sich jeden Meter des Weges erarbeitet. Ihre Zeit war eine völlig andere als meine. Der Weg ist wohl das Ziel, dachte ich, ohne die Bedeutung des Satzes wirklich zu begreifen.
»Macht es denn Spaß?«, fragte ich. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, wie man anderthalb Jahre Vergnügen an der immer gleichen Tätigkeit haben konnte. Musste das nicht bald ziemlich eintönig werden?
»Oh, unwahrscheinlichen Spaß sogar«, strahlte die Frau. »Wissen Sie, man reist viel bewusster, wenn man langsam reist. Ich bin manchmal überrascht, was mir auf dem Sattel für Gedanken kommen. Da hat man mal Zeit, über Dinge nachzudenken, die sonst auf der Strecke bleiben. Und zugleich nimmt man seine Umgebung viel intensiver wahr, als wenn man nur aus dem Fenster eines Autos schaut. Zu Hause habe ich zwanzig Jahre lang meine Kinder großgezogen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe meine Kinder, aber ich war pausenlos am planen. Den morgigen Tag, das nächste Abendessen, den nächsten Familienurlaub. Nie hatte ich Zeit, mal so richtig den Nachmittag zu genießen. Nie hatte ich Zeit, mal auf das zu hören, was ich wollte. Aber beim Fahrradfahren ist das anders. Da kann man den Moment so richtig genießen. Da lebt man mal so richtig im Hier und Jetzt.«
Nachdenklich kratzte ich mich am Bauch. Ich begriff schon, was sie sagte, aber ich verstand sie nicht wirklich. Ich war eigentlich froh, dass ich immer etwas zu tun hatte, dass es immer etwas zu organisieren gab. Das hielt mich auf Trab.
Doch ihre strahlenden Augen ließen mich nicht mehr los. Mir war zwar nicht ganz klar, was sie so zum Leuchten brachte, doch ich wünschte es mir für mich ebenfalls. Also beschloss ich, in Zukunft unorthodoxeren Reiseweisen gegenüber aufgeschlossener zu sein.
Der Zahn ist weg
»Er ist weg!«, schrie ich panisch. »Der Zahn ist weg!«
Pete lachte, als er zu mir herüberpaddelte. Es war dasselbe breite, schiefe Lachen, das er im Grunde allen Sorgen entgegensetzte.
»Das ist mir auch schon passiert«, grinste er.
Verdammt! Das erklärte vermutlich, warum er so schiefe Zähne hatte. Wieder fuhr ich mit der Zunge durch meinen Mund. Da, wo mein linker Schneidezahn sitzen sollte, klaffte ein tiefes Loch. Es war Zeit für Panik! Waaaaah!
In einem albernen Versuch, die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu finden, tauchte ich unter. Das Meer zerrte an mir, obwohl heute eigentlich ein ruhiger Tag war, doch ich befand mich nun mal mitten in der Brandung. Ich erreichte den Grund und füllte meine Hände mit Sand. Selbst in meiner Panikattacke kam ich mir dämlich vor, weil ich mich mit den Kontaktlinsen ohnehin nicht traute, unter Wasser die Augen zu öffnen. Verzweifelt stieß ich das Board von mir, als ich wieder auftauchte. Verdammtes Surfbrett!
Pete lachte wieder. »Nice smile!«, grinste er.
Keine Ahnung, woher er seine Gelassenheit nahm. Aber er hatte ja auch nicht gerade beim Surfen das Kunststück vollbracht, sich selbst einen Zahn auszuschlagen. Er war mein Kunde, den ich täglich mit zum Surfen nahm, und ich war der Clown, der ihn unterhalten durfte. Offenbar fühlte er sich blendend unterhalten. Aufgelöst paddelte ich hinaus zum Boot, kletterte an Bord und atmete erst mal durch. Wie konnte das jetzt schon wieder passieren?
Ich war dem Aufruf eines Newsletters gefolgt, der ohne mein bewusstes Zutun seinen Weg in mein E-Mail-Postfach gefunden hatte. Ein Amerikaner, der vor der Küste Panamas auf einer einsamen Insel ein Surfcamp bauen wollte, suchte freiwillige Helfer. Kost, Logis und Surfen gegen etwas Arbeit. Das Camp sollte etwas abseits der Panamericana entstehen, in der Region Quebrada de Piedra vor der Halbinsel an Panamas Südküste. Eine Region, in die man außer beim Besuch dieses Surfcamps sonst niemals einen Fuß setzen würde. Endlich, das Abenteuer! Die Nachricht kam genau zu einem Zeitpunkt, als ich drohte, des täglichen Backpackens überdrüssig zu werden. Wenn man erst mal soundsoviele Strände erlebt hat, auf soundsoviele Vulkane gestiegen ist und soundsoviele Mayaruinen erforscht hat, verliert das ganze seinen Reiz. Ich suchte eine neue Herausforderung, einen neuen Kick. Da kam die Mail gerade recht. Ich schrieb ihm umgehend zurück.
Nur wenige Tage später kam ich an. Es existierte bereits so etwas wie ein Basiscamp in der Mangrovenzone am Ufer. Gemeinsam mit zwei englischen Schreinern und zwei amerikanischen Bauarbeitern wurde ich auf die vorgelagerte Insel gebracht und arbeitete dort für ein paar Tage. Wir schliefen in Hängematten und tranken aus einer im Inselinneren gelegenen Quelle, die eher einer Pfütze glich. Das grobe Gerüst des Restaurants war bereits errichtet worden, das Dach mit Palmwedeln gedeckt, und nun war es unsere Aufgabe, so etwas wie einen Boden zu konstruieren. Ich tat so, als wüsste ich, was ich tue, bis auch der Letzte begriffen hatte, dass ich keine Ahnung vom Handwerk hatte. In einem letzten Akt der Verzweiflung drückte man mir eine Schaufel in die Hand und trug mir auf, ein Plumpsklo zu graben. Eine Stunde später war ich keinen Fuß tief in den sandigen Grund vorgedrungen, dafür war es mir aber gelungen, den Stiel des Werkzeugs in zwei Hälften zu teilen.
Also wurde mir der Job eines Surfguides zugeteilt, der mit den Kunden, die im Basiscamp schliefen, zwei- oder dreimal täglich die Küste nach den fettesten Wellen absuchte.
Es war kein schlechtes Arrangement. Ich durfte entscheiden, an welchem traumhaften Strand dieses unbewohnten Küstenabschnitts wir surfen würden. Wir fuhren mit dem Boot raus, wann immer es die Tide zuließ, fuhren die Küste hinunter, bis wir eine schön laufende Welle fanden. Und während meine Klienten und ich unseren Spaß hatten, ankerte der Captain draußen im Meer und angelte unser Abendessen. Und es war Weihnachten. Weihnachten unter Palmen. Nie im Leben hätte ich mir vor zwei Monaten ein solches Fest erträumen können.
Hatte ich gesagt, es war nicht schlecht? Es war großartig! Bis diese Sache mit dem Zahn passierte. Es zog unangenehm an meinem offen liegenden Nerv mit jedem Atemzug, den ich tat. Ich sah meinen zwei amerikanischen Klienten zu, wie sie weitersurften, und versuchte, meine Situation einzuordnen. Ich war gemeinsam mit Pete eine kleine verwaschene Welle entlanggesurft und war an ihrem Ende vom Brett gesprungen. So wie ich es schon tausendmal gemacht hatte. Nur dieses Mal hatte sich das Brett ungünstig gedreht, als ich unter Wasser war, und deutete mit seiner Spitze genau auf die Stelle, wo ich auftauchen musste. Und als ich mit den Beinen schlug, um wieder nach oben zu kommen, spannte sich die an meinem Bein befestigte Leash. Genau in dem Moment, als ich die Wasseroberfläche durchdrang und nach Luft