Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel

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Die Kinder von Teheran - Mikhal Dekel

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der deutschen und der sowjetischen Herrschaft gegeneinander abwägen, wobei ihre Überlegungen und ihr Wissen auf dem beruhte, was sie aus ihrem alten Leben kannten und aus früheren Kriegen wussten. So wägten sie also aktuelle Gerüchte über deutsche Gräueltaten gegen ihre Erinnerungen an die relative „Anständigkeit“ der deutschen Besatzer im Ersten Weltkrieg ab, unter denen ein Mitglied des Teitel-Clans ja sogar als Bürgermeister amtiert hatte, und sie versuchten, ihre Überlebenschancen im stalinistischen Russland zu kalkulieren.

      Nach einem Vortrag, den ich 2016 in Paris hielt, kam die Tochter eines einstigen polnischen Flüchtlings zu mir und erzählte, dass ihr Vater – aus dessen Familie manche überlebt hatten, während andere ermordet worden waren – sein ganzes restliches Leben lang vom Grübeln über die falschen Entscheidungen der Ermordeten gequält worden war. „Was solche Flüchtlinge sich selbst erzählen“, sagte ich ihr, „ist immer eine Geschichte von richtigen oder falschen Entscheidungen“, aber wie ich später herausfinden sollte, wurden die unterschiedlichen Schicksale, die den Flüchtlingen scheinbar gleichberechtigt offenstanden, sehr viel weniger von ihrem eigenen Sinnen und Trachten bestimmt, als sie selbst meinten, und sehr viel mehr von größeren, weitgehend zufällig waltenden Mächten.

      Bereits im September 1939 hatte ein Deutsch-Sowjetischer Grenz- und Freundschaftsvertrag, der als eine Art zweites (und ebenfalls geheimes) Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt fungierte, festgelegt, dass all jene, die aus dem sowjetisch besetzten Polen in das deutsche Generalgouvernement zurückkehren wollten, dies ungehindert tun sollten. Am 1. Juni 1940, zehn Monate nachdem seine Familie aus Ostrów geflüchtet war, betrat Zindel Teitel ein Büro der deutschen Repatriierungskommission, die zur Erfassung und Betreuung dieser Remigranten eingerichtet worden war, und füllte das Antragsformular für die Rückkehr seiner Familie aus, womit sein Name sowie die Namen seiner Frau und seiner Kinder auf die lange Liste von mehreren Hunderttausend Polen, Ukrainern, Weißrussen und Juden gelangte, die sich bereits für eine Rückkehr in ihre Heimatorte hatten registrieren lassen.

      In der Woche darauf wurde der Antrag an ein sowjetisches Gericht in Bielsk Podlaski weitergereicht, einer Stadt südwestlich von Siemiatycze, wo die Familie Teitel am 5. Juli in Abwesenheit zur Ausweisung verurteilt wurde. Am 6. Juli wurden ihre Ausweisungsbescheide ausgefertigt – von Hand beschriftete Karteikarten, auf denen ihre Namen, Geburtsdaten, Wohnorte, Berufe, Nationalität, Ausbildung und Aufenthaltsort im Exil vermerkt waren.

      Monate zuvor, am 19. Februar 1940, hatten B. Baschew, seines Zeichens Vorsitzender der Allgemeinen und Vereinigten Holzwirtschafts-Gewerkschaft (AVHG), und ein Vertreter des sowjetischen Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) eine Vereinbarung unterzeichnet, der zufolge die letztgenannte Organisation der erstgenannten 10 000 neue Zwangsarbeiter zuführen sollte. Die AVHG brauchte frische Waldarbeiter, weil die Reihen ihrer Mitglieder sich durch den „Winterkrieg“ zwischen der Sowjetunion und Finnland zwischen November 1939 und März 1940 empfindlich gelichtet hatten.

      Also wurden zwischen Mai und Juli 1940 gut 5000 Familien aus den westlichen Gebieten der sowjetischen Einflusssphäre deportiert, und bis zum Ende des Jahres kamen noch einmal 4250 dazu, die nach Norden gebracht wurden – unter ihnen auch die Familie Teitel.8 In der Nacht des 7. Juli 1940 hämmerten um zwei Uhr morgens NKWD-Leute an die Teitel’sche Wohnungstür, um die Familie abzuholen. Hunderttausende erlitten dasselbe Schicksal:

      „Am Freitagabend betraten bewaffnete NKWDisten unsere Wohnung und befahlen uns, unsere Sachen zu packen, weil wir nach Warschau fahren.

      Am Freitag, um Mitternacht, pochte es heftig an unserer Tür, und mit Revolvern bewaffnete NKWDler befahlen uns, uns schnell anzuziehen.

      Um zwei Uhr nachts kamen vier NKWDisten mit Revolvern in der Hand. Einer blieb an der Tür stehen, der zweite am Fenster, und sie erklärten, wir fahren nach Deutschland.“9

      Einzeln und für sich wurde jede dieser vielen Familien mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und in Wagen gestoßen, ganz allein hat jede von ihnen Todesängste ausgestanden – aber die Berichte darüber gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Immer war es ein Freitagabend, der Sabbat hatte bereits begonnen. Immer kamen die Agenten mitten in der Nacht. Immer waren es vier bewaffnete NKWD-Leute.

      „Die Inhaftnahme, das ist ein wichtiger Abschnitt im Lehrplan der allgemeinen Gefängniskunde, in der eine grundlegende gesellschaftliche Theorie als Basis nicht fehlt“, sollte Alexander Solschenizyn zwei Jahrzehnte später in Der Archipel Gulag schreiben: „Ein schrilles nächtliches Läuten oder ein grobes Hämmern an der Tür. … Der ungenierte stramme Einbruch der an der Schwelle nicht abgeputzten Stiefel des Einsatzkommandos. … Alle Leute in der Wohnung sind nach den ersten Schlägen gegen die Tür vor Entsetzen gelähmt. Der zu Verhaftende wird aus der Wärme des Bettes gerissen, steht da in seiner halbwachen Hilflosigkeit, noch unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.“10

      Das Einsatzkommando, das in die Wohnung stürmte, wo Hannan damals schlief, teilte seinem Vater Zindel mit: „Jetzt fahrt ihr gleich im Sonderzug nach Hause“, befahl den Teitels, sich anzuziehen und ihre Sachen zu packen. Dann wurden sie in einem Lastwagen zum Bahnhof gefahren und in einen roten Viehwaggon gepfercht (eine „Rote Kuh“ – unter diesem Spitznamen sind diese Wagen in die Verkehrsgeschichte eingegangen). Der Waggon war bereits voll, fast fünfzig Menschen waren darin. Anders als die sogenannten Stolypin-Waggons, in denen seit der Oktoberrevolution in Russland die Gefangenen transportiert wurden, mussten die „Roten Kühe“ sich nicht an den regulären Fahrplan halten und konnten deshalb überall- und nirgendwohin fahren – mit dem nächsten Halt mitten im Nichts. Den Passagieren – den Insassen – konnte man irgendein beliebiges Fahrziel angeben, oder man sagte ihnen überhaupt nichts.

      Den Teitels sagte man, sie würden nach Warschau gebracht. Die brutale Überfüllung in einem Stolypin-Waggon wäre schon schlimm genug gewesen – dort lagen die Menschen buchstäblich aufeinander, die Sterbenden und die Toten zuunterst. Aber die „Roten Kühe“ waren sogar noch schlimmer. Bis zu tausend Menschen wurden hier auf etwa 25 Wagen verteilt, eine Prozedur, die Stunden, manchmal gar Tage dauern konnte. Die schon drinnen waren, sahen nur wenig – die winzigen Fensterchen waren noch vergittert worden. Vor jedem Ausgang standen Posten der Konvoi-Eskorte mit Maschinengewehren. „Das shtikenis [die Stickigkeit] war nicht zum Aushalten“, berichtete mein Vater in seiner Aussage. „Ein Stück Dreck sind wir allesamt gewesen. … Die Kinder haben den ganzen Tag gehungert, und die Erwachsenen, die dem Weinen der Kinder nur zusehen konnten, haben mitgeweint. Geholfen hat es aber nichts, und erst wenn die Kinder ganz verheult eingeschlafen sind und die Eltern neben ihnen, ist die Erlösung gekommen.“ Mitten in der Nacht „zwischen zwölf und eins, als wir schon schliefen, haben [dann] Soldaten heiße Suppe mit einem Stückel Brot gebracht.“ So war das übliche Vorgehen auf solchen Transporten: Nie genug zu essen und zu trinken, und wenn es doch etwas gab, dann wurde es nachts verteilt.

      Abbildung 5: Flüchtlinge werden in eine „Rote Kuh“ verladen.

      Zwischen 1929 und 1931 hatten die Sowjets eine Million Bauern in „Roten Kühen“ deportiert, die aus Moskau täglich und aus den Provinzhauptstädten einmal in der Woche abfuhren. Deutsche aus dem Wolgagebiet sowie Angehörige anderer Nationalitäten und Minderheiten, die auf dem Gebiet der Sowjetunion lebten, waren auf diese Weise in die Verbannung geschickt worden, und nun waren eben die Polen an der Reihe, Katholiken wie Juden, darunter auch Hannan, Regina, Zindel und Ruchela Teitel. Und sie wussten es zwar nicht, aber Ruchelas Schwester Mascha Halberstadt, ihr Ehemann Yosef und ihre Kinder Sarah und Hannania, bei denen sie in Siematycze gewohnt hatten, wurden ebenfalls deportiert – mit einem anderen Zug an einem anderen Tag.

      Auch Emma Perelgric, die jüngere Cousine von Hannan und Regina, die bei den Teitels die Sommerferien verbracht hatte und mit ihnen nach Osten geflüchtet war, und ihr Vater Adam wurden deportiert. Als Emma am 6. September mit ihren Onkeln die Stadt verlassen hatte, befanden sich Adam und seine

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