Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel

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Die Kinder von Teheran - Mikhal Dekel

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am Technikum in Haifa, und die Zweitälteste, Ruchela, 21 Jahre alt, wohnte mit ihrem Verlobten in Warschau.) Die jüngeren Kinder saßen auf Decken, die im Laderaum der Lastwagen über große Kisten gelegt worden waren. Chaja und Berek waren auf der mittleren Sitzbank zwischen Kartons mit Eiern eingeklemmt. Als Chaja sich über die Unbequemlichkeit der Lage beschwerte, warf ihr Fejge einen scharfen Blick aus ihren blauen, hervortretenden Augen zu und sagte kühl: „Jetzt ist Krieg, da ist alles anders.“ Lebhaft erinnerte sich Regina an diese Worte und an den starren Blick ihrer Großmutter.

      Die Lastwagen rollten durch das große Metalltor mit der Aufschrift BROWAR PAROWY BRACI TEITEL („Dampfbrauerei Gebrüder Teitel“). Dann bogen sie links auf die Borkowska-Straße ab, dann nach rechts, dann wieder nach links in Richtung Białystok. Ihr Zuhause sollten sie niemals wiedersehen.

      Obwohl Regina (inzwischen Riwka) und bis zu einem gewissen Grad auch ihre Cousine Emma (inzwischen Noemi) sich als hervorragende Informationsquellen erwiesen, suchte ich doch weiterhin verzweifelt nach der Zeugenaussage, die mein Vater dem polnischen „Informationszentrum Ost“ in Jerusalem gegeben hatte und die in Henryk Grynbergs Buch Kinder Zions fehlt. Ich ging davon aus, dass man einen Fünfzehnjährigen – denn so alt war Hannan, als er in Palästina ankam – beinahe sicher interviewt haben würde. Aber seine Aussage ließ sich nirgends aufspüren. Mehrmals habe ich intensiv danach gesucht, aber ich fand sie nicht – zuerst im Archiv der Hoover Institution an der Stanford University, wo ich dafür auf Hunderte andere Zeugenaussagen in polnischer Sprache und Tausende Dokumente zur polnischen Exilregierung stieß, darunter auch auf eine Aktenmappe, die einen kleineren, blauen Ordner mit Davidstern in der rechten oberen Ecke enthielt, dessen Bedeutung mir nicht klar war. Auch im Sikorski-Archiv in London fand ich die Aussage meines Vaters nicht, und auch nicht im United States Holocaust Memorial Museum in Washington oder in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.

      Und dann fand ich sie doch – oder vielmehr fand sie mich – an einem verschneiten Winternachmittag in Boston. Ich war auf einer Konferenz und hörte mir gerade eine Reihe von Beiträgen zu dem Thema „Kinderberichte über Kriegserlebnisse“ an, als eine der Vortragenden begann, aus der Aussage eines fünfzehnjährigen Jungen namens „Chananja Teitel“ vorzulesen, der seine Mutter als „eine Frau von paarundvierzig Jahren“ beschrieben hatte, „die an der Universität in Jekaterinoslaw ihren Abschluss gemacht“ hatte. Die zitierte Aussage war das hauptsächliche Textbeispiel in ihrem Vortrag, der sich mit „Beschreibungen der Eltern in Kinderkriegsberichten“ befasste. An die folgenden Referate in diesem Konferenzteil kann ich mich nur noch schemenhaft erinnern.

      Die Referentin, der ich diese unglaubliche Überraschung verdankte, die Historikerin Eliyana Adler von der University of Maryland, erklärte mir hinterher, dass sie die Zeugenaussage meines Vaters im Ginsach Kiddusch Haschem gefunden hatte, dem „Archiv ‚Heiligung des Namens‘“, einer winzigen, chaotischen, aber irgendwie auch faszinierenden Sammlung von Urkunden und Dokumenten, die das Herzstück der chassidischen Gemeinschaft der „Gerer“ im israelischen Bnei Berak bildet. Betrieben werde das Archiv von „Jeschiwa-Bochers“, wie sie sich ausdrückte, von jungen orthodoxen Gelehrten also, „die einer Frau nicht in die Augen sehen“. Die Zeugenaussage meines Vaters, sagte sie mir, sei eine von nur ganz wenigen dort vorhandenen gewesen, die nicht auf Polnisch, sondern auf Jiddisch gemacht worden waren. Auch sie hatte allerdings keine vollständige Fassung der Aussage, sondern nur eine Zusammenfassung, da das Archiv kein Kopiergerät hatte und seine Bestände auch nicht an Forscher, sondern nur an Familienangehörige aushändigte. Gleich am selben Abend schrieb ich eine E-Mail in hebräischer Sprache an das Ginsach Kiddusch Haschem in Bnei Berak, in der ich mich als Chananja Teitels Tochter vorstellte. Und schon am nächsten Morgen fand ich eine Antwort in meinem Postfach, im Anhang ein Foto von acht vergilbten Textseiten. Die Überschrift war mit einer Schreibmaschine in hebräischen Buchstaben geschrieben, aber ich sah gleich, dass es Jiddisch war: „PROTOKOL NUM. 26: fon [sic] Khanina Taytel“.1

      Wie ich herausfand, als ich bei meinem nächsten Besuch in Israel das anheimelnde kleine Archiv besuchte, das in einer Jeschiwa der Gerer Chassidim untergebracht ist, war die Zeugenaussage meines Vaters aus dem Besitz von David Flincker dorthin gelangt – jenes polnisch-jüdischen Journalisten, der ihn befragt hatte. Ich wusste weder weshalb noch wie Flincker, Sprössling einer Gerer Chassidenfamilie und vormaliger Herausgeber der Warschauer jüdischen Tageszeitung in polnischer Sprache Echo Żydowskie („Jüdisches Echo“) sowie des jiddischen Togblat, dazu gekommen war, in Jerusalem im Auftrag des polnischen Informationszentrums meinen Vater zu befragen. Und ich fragte mich auch, weshalb ausgerechnet seine Befragung – im Gegensatz zu den Interviews der meisten anderen „Kinder von Teheran“ – auf Jiddisch geführt worden war. (War das ein kleiner Akt der Rebellion vonseiten Hannans, um zu zeigen, dass er jetzt in einem anderen Land war, andere Loyalitäten galten? Oder war es ganz einfach Flinckers Sprache der Wahl gewesen?) Jedenfalls war ich aber ganz begeistert, und immer wieder auch überrascht, als ich das jiddische Gesprächsprotokoll zu lesen begann. Der Text war gespickt mit geistreichen Bemerkungen und Redensarten – etwa es hat geholfen vi a toydten bankes („es war so hilfreich wie einen Toten zu schröpfen“, sprich: es hat überhaupt nichts gebracht) –, die so ganz anders waren als der lapidare, ja lakonische Stil, den mein Vater im Hebräischen gepflegt hatte.

      PROTOKOLL NUMMER 26

       GINSACH KIDDUSCH HASCHEM

       ZEUGEN-AUSSAGE VON CHANANJA TEITEL, 15 JAHRE ALT,

       GEBOREN IN OSTRÓW MAZ., SOHN VON ZINDEL TEITEL, EIGENTÜMER DER

       BIER-BRAUEREI IN OSTRÓW MAZ.

      Nach Israel gekommen 1943 aus Russland über Teheran

      Erster Absatz:

      Am sechsten Tag nach Kriegsausbruch, noch bevor die Deutschen zu uns nach Ostrów Mazowiecka hineingekommen sind, sind wir – mein Tate, Mame, ich und ein kleines Schwesterl – aus der Stadt geflohen. Da war die Panik schon groß. Die Wege waren voll mit Flüchtlingen. Mein Tate, Zindel Teitel, ist in der Stadt ein Nagid gewesen [ein wichtiger Mann]. Er hat dort eine Brauerei gehabt und war mit allen Juden und Gojim bekannt und hatte deshalb mehr noch zu fürchten als andere. Wir sind geflohen, wohin es nur ging.

      Hannans Vater und sein Onkel Icok lenkten die beiden Lastwagen in Richtung des rund hundert Kilometer östlich von Ostrów gelegenen Białystok. Auf den Landstraßen waren bereits Pulks von Flüchtlingen unterwegs, die von panischen Soldaten der polnischen Armee immer wieder an den Fahrbahnrand gescheucht wurden, damit polnische Panzer und andere Armeefahrzeuge vorbeifahren konnten. Dreizehn Tage zuvor hatte ein geheimes Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt („Hitler-Stalin-Pakt“) Polen zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion aufgeteilt – „für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung“, wie es verhüllend hieß. Die deutsche 3. Armee, die am 1. September von Ostpreußen aus in Polen eingefallen war, war seitdem in nördlicher Richtung auf Masuren vorgerückt, und die Mordkommandos der ihnen zugeteilten „Einsatzgruppe“ – paramilitärische Verbände unter Leitung der SS – hatten bereits begonnen, entlang des Weges „reichs- und deutschfeindliche Elemente“ – Zivilisten, Polen und Juden – in Massen zu erschießen.

      Die Teitels steckten fest. Entlang der Hauptverkehrsstraße von Warschau nach Białystok hatten die Wojska Lądowe, die polnischen Landstreitkräfte, begonnen, Ostrów und andere Städte im Osten des Landes zu umringen und abzusperren, während die Piloten der deutschen Luftwaffe ihre Bomben sowohl auf sie als auch auf die Flüchtlingskolonnen abwarfen, wobei unzählige Menschen getötet und verwundet wurden. Auf der voranbrandenden Flüchtlingswelle, die in Gestalt Hunderter und Tausender einzelner Leiber nach Osten strömte, kräuselte sich die Panik. Würde sie jetzt schon brechen, nur wenige Tage nach dem Ausbruch des Krieges? Die Aussagen anderer Kinder waren detaillierter als die eher knappe Darstellung Hannans:

      „Tag für Tag bombardierten [die Deutschen] unsere

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