Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel

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Die Kinder von Teheran - Mikhal Dekel

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nach Übersee zu exportieren, wo ihnen inzwischen ein großer Kreis von Verwandten und ehemaligen Mitbürgern behilflich sein konnte. Sollten sie tatsächlich schon um diese Zeit mit dem Gedanken gespielt oder sogar versucht haben, Polen zu verlassen, dann habe ich niemals davon erfahren.

      Als wir am Abend bei Schnitzel und Bier in unserem Hotel saßen, um uns herum Fernfahrer und umherziehende Landarbeiter, fragten Krzysztof und ich Salar nach seinem Vater, Ali Abdoh, der nach dem Ausbruch der Islamischen Revolution aus dem Iran hatte fliehen müssen und seinen ganzen, beträchtlichen Besitz dabei zurückließ. Anderen Angehörigen des Abdoh-Clans, die insgesamt weniger Erfolg gehabt hatten als er, war es gelungen, ihr Vermögen schon lange vor dem Januar 1979 außer Landes zu schaffen, und so konnten sie in Amerika reüssieren, während Ali, zornig und verbittert, nur sechs Monate nach seiner Flucht aus dem Iran in Los Angeles an einem Herzinfarkt starb. „Er hielt sich für unbesiegbar“, sagte Salar. „Er war überzeugt davon, dass er mit der Regierung schon irgendwie würde verhandeln können.“ Zwar zweifelte ich daran, dass die Teitels sich ebenfalls für unbesiegbar gehalten hatten – aber zweifellos hatten sie selbst gegen Ende der 1930er-Jahre nicht mit dem Schlimmsten gerechnet.

      Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler durch Paul von Hindenburg, den Reichspräsidenten der Weimarer Republik, einer parlamentarischen Demokratie, zum deutschen Reichskanzler ernannt.

      Im Dezember 1933, Hannan besuchte seit drei Monaten die erste Klasse der Tarbut-Schule, wurde die Prohibition in den Vereinigten Staaten aufgehoben, und die Brauerei Teitel bereitete sich darauf vor, ihre Produktion für den Export um ein Vielfaches zu steigern.

      Mitte 1934 wurde in Polen die rechtsextreme Partei Obóz Narodowo-Radykalny (ONR, „Nationalradikales Lager“) gegründet, und im Oktober desselben Jahres zerstörten Anhänger der neuen Partei die Laubhütten, die von den jüdischen Einwohnern von Ostrów für das Erntedankfest Sukkot errichtet worden waren.

      Am 12. Mai 1935 starb Józef Piłsudski, und mit ihm fiel das letzte Bollwerk eines pragmatischen, liberalen Polen. Die Trauer in den jüdischen Gemeinden überall im Land war groß. Inzwischen besaß das ONR auch in Ostrów eine eigene Ortsgruppe, die von einem Mann namens Radwansky angeführt wurde. Er war es, der die „Übernahme“ der bislang vollkommen in jüdischer Hand befindlichen Textilindustrie in der Stadt plante und leitete. „Mit der Unterstützung des ONR begannen drei polnische Bürger von Ostrów, Stoffe von einem jüdischen Einzelhändler in Warschau einzukaufen, um sie in ihrem eigenen Laden anzubieten“, schrieb Wolf Teitel in seinen Erinnerungen, „aber sie machten schon bald Bankerott und sahen sich gezwungen, ihre Tuchwaren wieder bei den jüdischen Händlern [von Ostrów] zu erwerben, wo selbst Radwansky einkaufte, der sich am Sonntag durch die Hintertür in den Laden schlich.“

      Nachdem 1936 Wolfs Bewerbung am Warschauer Polytechnikum abgelehnt worden war, obwohl seine Noten eigentlich gut genug waren, beschloss die Familie, dass er seine Hochschulbildung in Belgien fortsetzen sollte. Aber Wolf weigerte sich und bestand darauf, dass, wenn er schon von zu Hause fortgehen sollte, er mit dem Schiff zu den Juden in Palästina fahren werde, um am Technikum in Haifa Bauingenieurwesen zu studieren. Am Tag seiner Abreise versammelten sich die Teitels auf dem Hof der Brauerei zu einem Gruppenfoto: Wolf, schlank und hochgewachsen, schon im beigen Reiseanzug, steht eingezwängt zwischen seinen Eltern Icok und Leja, die zwar angespannt, aber keineswegs verzweifelt aussehen. Zindel, Ruchela, Regina sowie der pausbäckige, neun Jahre alte Hannan sind ebenfalls mit dabei. Es ist das einzige Gruppenfoto der ganzen Familie, das ich besitze.

      3

       Über die Grenze

      Von Hitler zu Stalin

      Der August 1939 war der brisanteste Monat. Den ganzen Sommer hindurch hatten Hannans Eltern, Zindel und Ruchela Teitel, seine Großmutter Fejge, sein Onkel Icok und alle Teitel-Verwandten, ja die ganze übrige Einwohnerschaft der Stadt gebannt vor ihren Radiogeräten gesessen, hatten die Gazeta Polska verschlungen und die jiddischsprachige Tageszeitung Haynt („Heute“), die jeden Morgen aus Warschau nach Ostrów Mazowiecka geliefert wurde. Ihnen allen war schmerzlich bewusst, was die Herrschaft Hitlers in Deutschland bedeutet hatte, und dass ein Krieg durchaus im Bereich des Möglichen lag. Die beschwichtigenden Artikel in der Gazeta, wo es hieß, die polnische Armee sei bestens vorbereitet und werde im Ernstfall die Deutschen binnen drei Monaten schlagen, lasen sie mit Skepsis. Und doch kam auch weiterhin jede Woche die gewohnte Gerstenlieferung in der Brauerei Teitel an, wurde in der Mälzerei im Untergeschoss weiterverarbeitet und im Trockenturm getrocknet. Die Arbeiter – gut die Hälfte der Brauereiangestellten waren katholische Polen – rührten so wie eh und je die in den Bottichen gärende Maische und die Bierwürze in den Sudkesseln. Noch immer wurden auf dem Hof der Brauerei Kisten mit Bierflaschen auf Chevrolet-Lastwagen verladen, um sie zu Abnehmern in ganz Polen zu befördern. Die Teitel-Kinder, Hannan und Regina mit ihren Cousinen – zwei von Icoks vier Kindern, die dreizehnjährige Szulamit und die siebzehnjährige Pesja, lebten ebenfalls auf dem Gelände; eine weitere Cousine, die siebenjährige Emma Perelgric aus Warschau, war über den Sommer zu Besuch –, spielten wie gewohnt im Vorhof sowie in dem Gemüsegarten hinter dem Haus. Aber wenn die Erwachsenen des Abends zusammensaßen, dann debattierten sie über Chancen und Risiken und fragten sich, was sie tun sollten.

      Am 6. September 1939, sechs Tage nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, flohen die Teitels mit zweien der 133 Chevrolet HS-Motorlastwagen, die sich im Fuhrpark der Brauerei befanden, aus der Stadt – Wagen desselben Modells, das mein Vater fast drei Jahre später im Iran wiederfinden sollte. Bis unter die Decke des Laderaums packten sie die Wagen voll: mit Brot und Käse, Obst und Gemüse, Kartons mit Eiern und so viel haltbaren Lebensmitteln, wie sie bekommen konnten. Dazu noch schwere Wintermäntel, Decken, Kissen, etwas Kleidung. Seife und Handtücher. Bargeld, Schmuck, Uhren, überhaupt alles an Gold und Silber. Sie packten ihre cancartas ein – ihre polnischen Personalausweise – und ihre Abschlusszeugnisse des örtlichen Gymnasiums, dazu die Grundbuchauszüge über ihre Grundstücke und Häuser in Ostrów – einschließlich der Brauerei und fünf Wohnungen – sowie ihre Heirats- und Geburtsurkunden und ein Fotoalbum.

      Meine Tante Regina hat mir die Szene in dem ersten der vielen Gespräche geschildert, bei denen ich sie während meiner Sommerbesuche in Israel interviewt habe. Anfangs war sie zurückhaltend, wollte nicht reden – „izvi“, sagte sie zuerst, „lass doch!“, „lass gut sein!“ und „lass uns über dich reden“ –, aber je mehr ich selbst in Erfahrung gebracht hatte und je präziser meine Fragen wurden, desto reicher sprudelten die Details aus ihr hervor. Wir trafen uns in ihrer großzügigen Wohnung in einem Hochhausneubau in Ramat ha’Scharon, einem Vorort von Tel Aviv, wo sie mir Hühnersuppe, Obst und Kekse auftischte, um sich dann zu mir zu setzen und – hoch konzentriert und ernst – meine Fragen so umfassend und genau wie möglich zu beantworten. Wenn sie doch einmal zögerte, dann sagte sie etwa: „Ich glaube, das war so und so“ oder „Ich bin mir nicht sicher, dass das an diesem oder jenem Tag geschah.“ Was sie aber aussagte, hatte Bestand; nie zog sie es im Nachhinein in Zweifel. Auch vermied sie es, die Lücken durch Spekulationen aufzufüllen, wenn sie etwas beim besten Willen nicht wusste, sondern sagte: „Ich war ein kleines Mädchen, das weiß ich nicht mehr“ oder „Dein Vater hätte das gewusst!“ Wenn sie sich bei einem bestimmten Detail ganz sicher war, dann hielt sie daran fest, und jedes Mal, wenn ich später Gelegenheit hatte, ihre Aussagen anhand von unabhängigen Quellen zu überprüfen, stellte sich heraus, dass sie recht gehabt hatte.

      Während ihr Vater und ihr Onkel die Lastwagen beluden, sagte meine Tante, seien Dutzende von jüdischen Stadtbewohnern nach und nach zur Brauerei gekommen und hätten große Bündel Bargeld angeboten, wenn man sie nur mitnähme. Aber auf den Lieferwagen waren keine Plätze mehr frei. Der zwölfjährige Hannan, die achtjährige Regina und ihre Eltern nahmen den kleineren der beiden Wagen. In den größeren zwängten sich alle anderen: die Großmutter Fejge Teitel, 77 Jahre alt; die siebenjährige Emma (später Noemi) Perelgric; zwei weitere Verwandte, Berek Teitel und seine Frau

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