Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel

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Die Kinder von Teheran - Mikhal Dekel

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zu Fuß gehen, die Bündel auf dem Rücken. Die Soldaten vertrieben uns von der Landstraße, sie behaupteten, unsere Bündel dienten den deutschen Flugzeugen als Zeichen. Um ein Uhr nachts kamen wir endlich in Bochnia an. Am Morgen waren wieder Flugzeuge im Anflug. Sie kamen tief herunter, warfen Brandbomben und feuerten aus Maschinengewehren. Wir versteckten uns in einem eingestürzten Haus. Als es ruhiger geworden war, kaufte mein Vater ein Pferd und einen Wagen, und wir fuhren weiter, aber wir wussten nicht wohin, denn wo wir auch ankamen, gleich waren wieder Deutsche da, als würden sie uns verfolgen.“2

      Von Anfang an schienen mir die „Palästina-Protokolle“ eine ganz andere Geschichte des Holocaust zu erzählen, als man sie gemeinhin kennt: nicht eine Geschichte des Überlebens hinter Stacheldraht, im Bannkreis jener so perversen wie unerbittlichen Logik der Vernichtungslager, sondern stattdessen die Geschichte von Menschen, die aus der vermeintlichen Sicherheit ihres Zuhauses gleichsam hinausgespien wurden in die ungeheure Weite einer verelendeten und zugleich erbarmungslos gefährlichen Welt. Eine Geschichte, die mit ihrer Flucht begann.

      „Am Freitag, dem 1. September, brach eine Panik aus. Polen, Juden, jeder, der konnte, flüchtete in Richtung Lwów. Vater wollte nicht fliehen, wie soll man sich auch mit sechs Kindern und ohne Geld auf die Wanderschaft machen? … Aber als es hieß, die Deutschen stehen schon in Podhajce und der letzte Zug geht ab, änderte Vater seinen Entschluss. Im Zug war ein schreckliches Gedrängel, man konnte weder sitzen noch stehen, man lief über Leute hinweg, trampelte auf Kindern herum. Auf jeder Station kamen neue Passagiere dazu, und es gab Schlachten zwischen den Hinzugekommenen und denen, die vorher da waren. Immer wenn Flugzeuge auftauchten, hielt der Zug an, und die Leute trampelten sich gegenseitig nieder und sprangen hinaus, um in den Gräben in Deckung zu gehen. Wenn ein Angriff vorbei war, drängte man sich wieder in den Zug, man verlor seine Familie und seine Sachen. Die ganze Zeit hörte man das Geschrei von Bestohlenen, das Weinen von Kindern und Rufe. Auf diese Weise fuhren wir zwei Tage und zwei Nächte nach Lwów.“3

      In manchen Punkten wichen die Berichte der Kinder voneinander ab, aber selbst in den Details stimmten sie meist überein. Bei allen war die Erinnerung an die ersten Tage ihrer Flucht viel lebhafter als alles, was noch folgen sollte.

      *

      Als ich Regina befragte, war ihr eine Episode ganz besonders im Gedächtnis geblieben: wie Hannan in Małkinia Górna, wo die Familie die erste Nacht ihrer Flucht verbrachte, einen deutschen Bombenangriff verschlief, durch den das Dach der geschlossenen Terrasse einstürzte, auf der sie Zuflucht gesucht hatten. Es war eine typische Anekdote, denn etliche andere ehemalige Flüchtlinge, die ich interviewt habe, erzählten mir ganz ähnliche Geschichten – von Momenten einer befreienden Komik oder in denen sie noch einmal Glück gehabt hatten; von schicksalhaften Entscheidungen, die zum Guten führten; von Augenblicken, in denen ihre Eltern einen Entschluss fassten (selbst wenn es ein schlechter Entschluss war) oder die Initiative ergriffen, anstatt sich nur umherstoßen zu lassen. Ich konnte mir vorstellen, dass sie schreckliche Angst gehabt haben mussten. Vor dem Krieg hatte Hannan nur eine einzige Nacht seines Lebens außerhalb von Ostrów verbracht: als ihm in Warschau die Mandeln herausoperiert worden waren. Regina hatte in ihrem Leben kaum je das Brauereigelände verlassen. Und jetzt wurden sie mit einem Mal in die weite Welt hinausgetrieben auf ihrer hastigen Flucht vor der anrückenden Wehrmacht.

      Während der gut zwei Wochen, die zwischen der Nazi-Invasion am 1. September 1939 und der sowjetischen Invasion am 17. September verstrichen, drangen deutsche Soldaten auch in Städte und Dörfer ein, die nach den Bestimmungen des Hitler-Stalin-Paktes an die Sowjetunion fallen sollten. Sie erniedrigten die Einwohner und plünderten ihren Besitz, verstümmelten manche und töteten andere unter dem Gebrüll von Parolen wie „Marsch zu euren roten Brüdern!“ – nur um sich dann, einige Tage später, wieder zurückzuziehen. In Ostrów, berichtete ein Kind in seinem „Protokoll“, verhafteten deutsche Soldaten vollkommen willkürlich seinen achtzehnjährigen Bruder, den sie zusammen mit anderen Gefangenen in eine nahe gelegene Kaserne der polnischen Armee brachten, wo sie drei Tage und drei Nächte lang ohne Wasser oder Nahrung reglos auf dem Hof im Schlamm knien mussten. Wer sich bewegte, wurde erschossen. Am vierten Tag erhielten die Überlebenden den Befehl, ein Stück Landstraße zu pflastern. Erst am fünften Tag gab man ihnen ein wenig Wasser und Brot und ließ sie dann gehen.4 In anderen Zeugenaussagen berichten Kinder, wie religiösen Juden die Bärte „mit ganzen Hautstücken“ ausgerissen wurden; alte Leute gezwungen wurden, stundenlang mit erhobenen Händen vor ihren Häusern zu stehen; die Heiligen Schriften aus den Synagogen geworfen und in den Dreck getreten wurden; wie Menschen gezwungen wurden, andere – darunter ihre engsten Angehörigen – mit Benzin zu übergießen, damit sie lebendig verbrannt werden konnten.5

      Ich wusste nicht, welche Grausamkeiten mein Vater von den Deutschen erlitten oder miterlebt hatte – in seiner Zeugenaussage erwähnt er nichts dergleichen, und so redete ich mir ein, dass er wohl früh und schnell genug geflohen war, um dem Grauen irgendwie zu entgehen. Doch das war er nicht. In den ersten Kriegstagen hatte der junge Hannan, wie ich einige Jahre nach Beginn meiner Nachforschungen von dem Jerusalemer Gynäkologen Yuval Bdolach erfuhr, miterlebt, wie in Ostrów eine ganze Familie ermordet worden war – eine Mutter mit ihren vier Töchtern. Die Frau, Chana Weiss, war Dr. Bdolachs Großtante gewesen. „Als Ihr Vater 1943 in Jerusalem angekommen war“, erzählte er mir, „hat er meiner Großmutter berichtet, wie man ihre Schwester und ihre Nichten getötet hatte. Ihr Vater hat alles aus nächster Nähe mit angesehen; er war der einzige Zeuge, von dem wir wissen.“

      Die deutschen Fieseler-Bomber ließen sich von den veralteten polnischen Jagdflugzeugen nicht abhalten, die auf gut Glück – aber wenig erfolgreich – nach ihnen schossen, und nahmen auch weiterhin im Tiefflug die Flüchtlingskolonnen unter Beschuss. Binnen Wochen war die Hälfte der polnischen Luftwaffe außer Gefecht gesetzt, und die andere Hälfte hatte sich nach Frankreich zurückgezogen. Kurz darauf trat auch der Großteil der polnischen Kriegsmarine und Infanterie den Rückzug an oder stieß zu den Truppen der Alliierten. Nachdem die Soldaten fort waren, verblieben auf den Landstraßen im Nordosten Polens nur noch die Scharen von Zivilisten, die aus ihren Heimatorten geflüchtet waren. Immer neue Wellen von Flüchtlingen spülten die Leichen der Ermordeten – wie Chana Weiss und ihre Töchter – an den Wegesrand. Jiskor-Bücher und Gedenksteine sind an eine Stadt, eine Nation, einen bestimmten Ort gebunden; an die Menschen, die auf dem Weg von einer Stadt in die andere, von einem Land in das nächste sterben, erinnern sie nicht. Kein Gedenkstein vermerkt den Tod der Weiss-Mädchen und ihrer Mutter, genauso wenig wie den Tod jener unzähligen anderen, die in den ersten Kriegswochen entlang der hundert Kilometer langen, von Flüchtlingen verstopften Landstraße zwischen Ostrów und Białystok ihr Leben ließen.

      Rund 1,5 Millionen polnische Juden – fast die Hälfte der gesamten jüdischen Bevölkerung Polens, dazu noch katholische Polen, Litauer und Angehörige anderer Minderheiten – befanden sich am Ende der ersten Kriegsmonate auf sowjetischem Territorium, sei es, weil sowjetische Truppen ihre Heimatorte besetzt hatten, sei es weil sie – wie die Familie Teitel – vor der nahenden Wehrmacht nach Osten geflohen waren.

      Nachdem sie die Grenze zur Sowjetunion passiert hatten, beschlossen Zindel und Ruchela Teitel, sich mit ihren Kindern vom Rest der Familie zu trennen, der in Richtung Białystok weiterfahren wollte, und stattdessen den Weg nach Siemiatycze einzuschlagen, wo Ruchela aufgewachsen war. Ruchelas Mutter, Esthera Averbuch, und ihr jüngerer Bruder Daniel lebten noch immer dort und führten einen kleinen Textilhandel. Ruchelas ältere Schwester, Mascha Halberstadt, hatte geheiratet und wohnte mit ihrem Ehemann und zwei Kindern ganz in der Nähe. Siemiatycze hatte zum russischen Zarenreich gehört, dann zur Sowjetunion und war schließlich, im Jahr 1921, Teil der Republik Polen geworden. Und nun sollte es – nach einer kurzen, aber umso grausameren Besetzung durch deutsche Truppen vom 11. bis zum 13. September 1939, wiederum in sowjetische Hände fallen.

      Am 15. September brach die polnische Verwaltung in Siemiatycze zusammen. Am 17. September rückte die Rote Armee in die Stadt ein. Bis Ende September war die gesamte Verwaltung, waren alle Schulen und sonstigen öffentlichen Einrichtungen vollständig sowjetisiert, während die

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