Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel
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Von der Brauerei oder ihren Besitzern war nirgends die Rede. „Nachdem deine Familie fortgegangen war“, erklärte mir Krzysztof, „hat die Gestapo das Gelände beschlagnahmt und die Brauerei zu ihrem Hauptquartier gemacht. Als die Nazis dann 1944 abzogen, haben sie alles mit Dynamit in die Luft gejagt.“ Der Name der Straße, an der drei Generationen lang der browar der Familie Teitel gestanden hatte, war inzwischen von „Brokowska“ in „Partyzantów“ geändert worden – sie war nun die „Straße der Partisanen“. Diese Umbenennung ging wohl, wie ich vermute, auf die polnischen Widerstandskämpfer zurück, die von der Gestapo in den Räumen der vormaligen Brauerei verhört und gefoltert und getötet worden waren. Ostrów hatte sich eine neue Vergangenheit verpasst, hatte seine Geschichte umgeschrieben, und irgendjemand – vermutlich ich selbst – würde dagegen Einspruch erheben müssen, würde für eine weitere Plakette kämpfen müssen, die neben dem Polnisches-Märtyrerblut-fürdie-Freiheit-Gedenkstein angebracht werden sollte:
HIER STAND VON 1856 BIS 1939 DIE BRAUEREI DER FAMILIE TEITEL.
Ze’ev (Wolf) Teitel, jener hochgewachsene, blonde und offenbar hochintelligente ältere Vetter, den der junge Hannan geradezu abgöttisch verehrte, hatte die ersten zwanzig Jahre seines Lebens in der Brauerei verbracht und wäre als Erbe seines Vaters wohl ihr nächster Geschäftsführer geworden. Noch auf seinem Sterbebett in Haifa hat er eine detaillierte Darstellung des Teitel’schen Brauprozesses niedergeschrieben – bis hin zu der Temperatur, bei der die Gerste gemälzt wurde (exakt 67 °C); dem Namen des polnischen Vorarbeiters (Schwintowsky); der Frage, wer dort umrührte und wie (mit der Hand); dem deutschen Zählvers, den die Umrührer bei ihrer Arbeit sangen; dem süß-klebrigen, goldenen Brottrunk (Kwas), der dort ebenfalls produziert und als alkoholfreie Alternative zum Teitel- Bier verkauft wurde; und vielen, vielen weiteren Details, die ich damals ohne besonderes Interesse las – auch, weil es mir rätselhaft war, weshalb der alte Mann so viel Mühe darauf verwandte, uns eine Handwerkskunst zu vermitteln, die keinem von uns Kindern (für die sein Memoire ja geschrieben war) nützlich oder auch nur interessant sein würde. Erst jetzt, in Ostrów, angesichts all dessen, was einmal ihres gewesen war, wurde mir schlagartig klar, dass Hannan und er vermutlich die beiden einzigen Menschen auf der ganzen Welt gewesen waren, in denen die Erinnerung an das brauerische Know-how der Teitels weitergelebt hatte – eine Handwerkstradition, die in der Familie über Generationen gepflegt und vervollkommnet worden war. „Traumatischer Realismus“, so nennt der Holocaust- und Gedächtnisforscher Michael Rothberg die Verwendung scheinbar willkürlicher Details, wie Wolf sie in seinem Bericht erwähnt: geisterhafte, frei schwebende, aber doch hochkonkrete Einzelheiten einer verlorenen Vergangenheit, die dieser zwar neues Leben einhauchen, ihren Verlust aber dabei umso stärker hervortreten lassen. Bis in die kleinsten Feinheiten konnte mein Onkel beschreiben, wie bei Teitels einst gebraut wurde – aber Brauer, Bier und Brottrunk gab es in Ostrów schon lange nicht mehr.
Die Jugend nicht nur der jungen Teitels, sondern auch die von Dutzenden anderer Burschen und junger Männer war eng mit dem Leben der Brauerei verwoben: Hilfsarbeiter und Handwerker, Mechaniker und Fahrer, Schweißer und Putzleute – über Generationen hatten sie, teils als ganze Familien, „beim browar“ gearbeitet. Der Handwerker, der die hölzernen Bierstopfen mit der Hand schnitzte, war bei seinem Vater in die Lehre gegangen und hatte schließlich dessen Posten in der Brauerei geerbt; für Hannan und Wolf schnitzte er ganze Sätze winziger Schachfiguren, die von den Jungen heiß geliebt wurden.
Noch in Ostrów erhaschte ich einen flüchtigen Blick auf das Vorkriegs-Ich meines Vaters: auf das Schlittschuhlaufen, wenn der große Teich neben der Brauerei zugefroren war; auf das Pilzesammeln in den Nadelwäldern um Ostrów am Schabbesnachmittag; auf die jüdischen Feiertage und das hohe Ansehen, das die Familie in der Stadt genoss; auf Hannans schon vorbestimmte Zukunft in der Brauerei; auf seine Schule, Tarbut, und auf die Nikolaus-Kopernikus-Oberschule, die bereits auf ihn wartete, das Liceum Ogólnokształące im. Mikołaja Kopernika w Ostrowi Mazowieckiej.
Wie sich herausstellte, war das neoklassizistische Schulgebäude des Liceum Ogólnokształące („Allgemeine Oberschule“) die einzige – wenn auch indirekte – Spur, die von der Familie Teitel in Ostrów geblieben war.8 „Neben den zahlreichen negativen Aspekten, die sich aus dem Nebeneinander der beiden Bevölkerungsteile ergaben, gab es auch einige positive“, schreibt Andrzej Pęziński, ein älterer Bürger von Ostrów in einem unveröffentlichten Manuskript zur Geschichte seiner Heimatstadt – eine Einschätzung, die er mir im persönlichen Gespräch bestätigt hat. „Einige der wohlhabenden Juden – Teitel und andere – unterstützten den Bau des Gymnasiums in Ostrów, wo ihre Kinder zur Schule gingen, finanziell.“
Abbildung 4: Icok und Zindel mit Hannan und Regina vor der Brauerei Teitel.
Also gingen Salar, Krzysztof und ich hinüber zu dem neoklassizistischen Bau, der heute größtenteils intakt erhalten ist. An der Fassade zur Straße hin findet sich die Inschrift „Erbaut im Jahre 1928“, und im Eingangsbereich erinnert ein Gedenkstein aus Granit an „all jene Lehrer, die während des Zweiten Weltkriegs heimlich Unterricht abhielten“.
Am Abend desselben Tages besuchten wir noch einen weiteren betagten Einwohner von Ostrów, den 87-jährigen Riczard Ejchelkraut, in seiner Wohnung in einem schon leicht verfallenen Plattenbau aus der kommunistischen Epoche Polens. Aus einem Stauraum in der Zwischendecke holte der alte Herr stapelweise Jahrbücher des Gymnasiums hervor, in deren Namenslisten sich gleich mehrere Teitels fanden: Sura Teitel, Berek Teitel und Wolf Teitel, dazu noch andere Namen, die mir nicht bekannt vorkamen. Unter der durchhängenden Decke, zwischen den abblätternden Wänden seines Wohnzimmers saß der spitzbübische Riczard, ein Charmeur alter Schule, und blätterte mit mir die alten Jahrbücher durch, während Salar uns dabei filmte, wie wir durch Gesten und Gebärden miteinander zu kommunizieren versuchten. An einer Wand im Flur hing ein großformatiger Stadtplan des Ostrów von einst, und in den Regalen standen ganze Bände einer lokalen Zeitschrift, die Riczard einmal herausgegeben hatte. „Es ist schon unheimlich“, sagte ich zu Salar, als wir in die beinahe totenstille Ostrówer Nacht davongingen, „wie riesige Backsteinpaläste zu Staub zerfallen, während bloßes Papier – Geburtsurkunden, Abschlusszeugnisse, Jahrbücher – manchmal unvergänglich scheint.“
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Die Teitels gingen auch in den 1920ern nicht aus Ostrów weg, obwohl der polnische Nationalismus sich in jenen Jahren von seiner hässlichsten Seite zeigte und es sporadisch auch zu Angriffen auf jüdisches Eigentum kam (pogromchiks hatte Tante Regina das genannt, „Pogrömchen“). Selbst eine staatliche Auswanderungspolitik, die starke Anreize für die Emigration der polnischen Juden und anderer Minderheiten setzte, konnte die Familie nicht dazu bewegen, ihre Heimatstadt zu verlassen. Zahlreiche andere jüdische Bewohner von Ostrów, darunter auch einige Mitglieder der weiteren Teitel-Verwandtschaft, waren jedoch bereits emigriert, was auf eine potente Mischung aus antijüdischen Gewalttaten und der Emigrationspolitik des polnischen Staates zurückzuführen war. Dazu kam noch eine neuartige und ausgefeilte „Visums-Industrie“, die alle Auswanderungswilligen auf ihrem Weg in die Vereinigten Staaten oder nach Australien unterstützte. Zum ersten Mal seit fast einem ganzen Jahrhundert verschob sich das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in Ostrów erheblich, bis die Katholiken schließlich die Mehrheit in der Stadt stellten.
Spätestens Anfang der 1930er-Jahre hatte Roman Dmowski, der Mitbegründer und Chefideologe der nationalkonservativen, offen antisemitischen Bewegung „Nationale Demokratie“ (Endecja) sowie hauptsächlicher Rivale des liberalen Józef Piłsudski, seine Unterstützer auch in Ostrów, wo sie begannen, gelegentliche Boykotte jüdischer Geschäfte zu organisieren und ganz allgemein die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen zu verschärfen. Währenddessen waren die Geschäfte der Brauerei und des Sägewerks Teitel erfolgreich weitergelaufen, ja bis zur Mitte der 1930er-Jahre hatten sie