Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel
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In gleich mehreren jiskor-Einträgen wird Michel Teitel als stellvertretender Bürgermeister von Ostrów während der Kriegsjahre erwähnt, der in dieser Funktion „viel getan [habe], um das Leiden der Einwohner zu lindern“. An anderer Stelle heißt es, Hersz Teitel habe „unter der deutschen Besatzung als stellvertretender Bürgermeister amtiert“. Ganz gleich, wie es sich nun genau verhalten haben mag, so waren die beiden doch bei der Versorgung der Flüchtlinge in der Stadt engagiert, unterstützten Gäste wie Fremde aus den Mitteln der bestehenden Wohlfahrtsvereine oder gründeten neue, wo sie gebraucht wurden. Die tzedaka – die Wohltätigkeit – „gilt so viel wie alle anderen Gebote zusammen“, heißt es im Talmud, und diese Überzeugung scheint den Teitels als Teil ihres Glaubens wie auch ihres praktischen Lebensvollzuges von jeher eingepflanzt gewesen zu sein. Aber erst während der Kriegsjahre begannen die jüdischen Gemeinden Polens – und auch die Gemeinde von Ostrów –, ihre wohltätigen Werke im großen Maßstab zu organisieren.
Vier Monate nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde in New York das Joint Distribution Committee als politisch nicht gebundene Hilfsorganisation der amerikanischen Juden gegründet. Sein ausdrücklicher Zweck sollte es sein, jüdischen Kriegsflüchtlingen finanzielle und medizinische Unterstützung zu gewähren. Schon bald darauf wurden amerikanische Ärzte und Arzneimittel nach Polen geschickt, wo sie mit lokalen Hilfsvereinen und hilfsbereiten Familien wie den Teitels zusammenarbeiteten, die überall im jüdischen Polen auf sie warteten.
Als der Erste Weltkrieg dann endlich vorbei war, forderten die Teitels erfolgreich ihre Brauerei zurück. Hannans Onkel Icok kehrte von seinem Studienaufenthalt in Deutschland zurück und übernahm die Leitung des Familienbetriebs. Die Habsburgermonarchie brach zusammen, und in Polen riss ein Revolutionär namens Józef Piłsudski die Macht an sich. Piłsudski wollte ein unabhängiges Polen und er bekam es: Am 11. November 1918 wurde in Warschau die Zweite Polnische Republik ausgerufen. Zum ersten Mal, seitdem der erste bekannte Michel Teitel gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der Stadt angekommen war, gehörte Ostrów zu einem selbstständigen polnischen Nationalstaat. Die Teitels waren leicht nervöse, aber nicht völlig unzufriedene Bürger der neuen Republik. Piłsudski galt als ein toleranter Pragmatiker, und für Geschäftsleute wie die Teitels war eine unabhängige polnische Republik einer bolschewistischen Sowjetrepublik Polen allemal vorzuziehen. Drei Monate später wurde jedoch eine neue Front eröffnet, und die Familie verschlug es weit auf die „Bloodlands“ hinaus, als Polen mit Sowjetrussland aneinandergeriet.
Erneut wurde Ostrów besetzt, diesmal von sowjetischen Truppen, die fast zwei Jahre lang in der Stadt blieben, Bier aus den Fässern der Brauerei Teitel soffen und daran arbeiteten, die Revolution Lenins und Trotzkis auch nach Polen zu tragen. Unter ihrem Einfluss gründeten idealistische junge Mitglieder des „Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes“ die ersten Gewerkschaftsgruppen in der Stadt, in denen sich die Zimmerleute und Tischler, Schneider, Träger, Bäcker von Ostrów, aber auch die Angestellten des Sägewerks Teitel, das einem anderen Familienzweig gehörte, organisieren konnten. Die Bundisten gründeten ein Theater, boten Vorträge an und veranstalteten Teach-ins zu den Schriften von Karl Kautsky. Sobald die Sowjets geschlagen waren und die Rote Armee sich aus Ostrów abgesetzt hatte, wurden sie von den Polen liquidiert. An einem Baum an der Ulica Malkińska hängte man sie auf, und die Oberrabbiner der Stadt mussten bei der Hinrichtung zusehen, während der Rest der jüdischen Bevölkerung zu Hause bleiben sollte.
Innerhalb der Grenzen des neuen polnischen Staates lebten fünf Millionen Ukrainer, eine Million Weißrussen und mehr als drei Millionen Juden – Minderheiten, die an der Regierung der polnischen Republik repräsentativ beteiligt wurden. Die Stadt Ostrów war nun größer, moderner und anziehender als jemals zuvor, sie bekam neue Schulen, eine neue Bibliothek und ein neues Elektrizitätswerk. Die Pferde und Karren, mit denen über Jahrzehnte das Bier der Brauerei Teitel ausgeliefert worden war, wurden durch moderne Chevrolet-Vierzylinder und tschechoslowakische Motorlastwagen der Marke Škoda ersetzt. Die jüngeren Kinder aus dem Teitel-Clan – Hannan, seine Cousins und Cousinen – besuchten schon bald eine Tarbut-Schule. Die Filiale einer jüdischen, zionistisch ausgerichteten Kette von Grundschulen, an denen Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet wurden, war 1922 auf dem Gelände des Teitel’schen Sägewerks eingerichtet worden. Die Lehrerinnen und Lehrer, Neuankömmlinge aus Galizien, die ihre Heimat wegen des polnisch-russischen Krieges hatten verlassen müssen, waren kultivierte, anspruchsvolle Leute, die den jüdischen Schulkindern von Ostrów die hohen Standards jener russischen Schulbildung mitbrachten, die sie selbst genossen hatten.
Im Jahr 1926 heiratete der dreißigjährige Zindel die sechs Jahre jüngere Ruchela Averbuch, eine Absolventin der Universität von Jekaterinoslaw (später Dnepropetrowsk, heute Dnipro in der Ukraine). Auf den erhaltenen Fotos sieht Zindel attraktiv und sanftmütig aus: ein klein wenig vollschlank vielleicht und etwas schrullig mit seinem ständigen Grinsen, die Hand stets auf der Schulter eines seiner Kinder abgelegt. Ruchela dagegen wirkt knochig, hat ein scharf geschnittenes Kinn und ist stets sorgfältig gekleidet. Älter, eleganter und auch strenger als ihr Mann erscheint sie, dabei war sie jünger und kam aus ärmeren Verhältnissen. In ihrer Heimatstadt Siemiatycze, die vor dem Krieg zu Russland gehört hatte und nun polnisch geworden war, verdiente ihre verwitwete Mutter den Lebensunterhalt mit dem Import von Tuchwaren aus Krakau. Noch im ersten Jahr ihrer Ehe kam Hannan zur Welt, Regina folgte vier Jahre später.
*
Heute findet sich von dem einstigen jüdischen Leben in Ostrów Mazowiecka keine Spur. Das sagte uns Krzysztof, unser Guide, und ich glaubte ihm aufs Wort, als er uns zügig durch die unsichtbare Stadt von vor dem Krieg kutschierte: Diese Autowerkstatt hier war einst eine Synagoge gewesen, jener Kindergarten eine Talmudschule. So gut wie alle öffentlichen Gebäude und privaten Wohnhäuser, die vor dem Krieg jüdische Besitzer gehabt hatten – am Plac Ksienznej Anny Mazowieckiej, auf der alten Marktstraße, auf der Brokowska-Chaussee sowie den Straßen Miodowa, Pułtuska, Rożanska, Koza Jagiellońska, Nurski, Solna, Ostrołęcka, Jatkowa, Batorego und Warszawska –, waren nicht mehr da, waren abgebrannt, wie ich erfuhr, in Brand gesteckt am 9. November 1939. Nichts war mehr geblieben von Ostróws jüdischer Vergangenheit. Also konnte es auch keinen Widerstreit zwischen der jüdischen und der katholischen Vergangenheit der Stadt geben, wie es in Warschau der Fall war. Hier in Ostrów gab es noch nicht einmal Gespenster – sondern nur tiefes, fragloses Vergessen.
Auch Wohnhäuser auf einst „gemischten“ Straßen wie der Ulica 3go Maja („Straße des 3. Mai“), der Malkińska und der Pocztowa, der Kosciuszki-Allee, der Ugniewska, Cmentarza, Lubiejewska und Piaskes waren abgerissen worden. Der jüdische Friedhof von Ostrów, wo die Teitels über acht Generationen ihre Toten begraben hatten – „länger als die meisten Polen“, hatte meine Tante Regina mir am Vorabend meiner Abreise noch am Telefon gesagt –, war eingeebnet worden, um Platz für einen Viehmarkt zu schaffen.
Die Brauerei Teitel gab es ebenfalls nicht mehr. An ihrer Stelle fand ich die frisch gestrichene Grundschule Nr. 1 „Tadeusz Kościuszko“ vor, deren Schüler jedoch gerade Sommerferien hatten. Wir gingen ein wenig auf dem Schulgelände umher und hielten Ausschau nach Spuren, die es nicht gab. Aus einem steinernen Häuschen gleich neben der Schule kam eine rothaarige Frau heraus. „Der Vorbesitzer des Hauses hat ihr erzählt“, übersetzte Krzystztof für uns, „dass Teitel seinen polnischen Nachbarn zu jedem Osterfest Bier in Flaschen geschenkt hat.“
Am Eingang zum Schulhof fanden wir einen kleinen Gedenkstein, in den die folgende Inschrift eingraviert war: