Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel

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Die Kinder von Teheran - Mikhal Dekel

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Fotos habe ich gefunden, auf denen mein Vater vor dem Krieg zu sehen ist. Auf meinem Lieblingsbild spaziert er mit seinen Eltern und seiner Schwester die Brokowska ulica entlang, eine Straße ihrer Heimatstadt, die ein Stück vom Brauereibetrieb und Haus der Familie entfernt verläuft. Hannan geht aufrecht, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Er trägt die Schuluniform von Tarbut, einem Verbund hebräischsprachiger, aber säkularer Schulen, die in der Zwischenkriegszeit in Osteuropa aktiv waren: eine grauschwarze Jacke mit abgestimmter, knielanger Hose und der dazugehörigen Mütze. Zu seiner Linken geht seine Schwester Regina, die ein langärmliges, ebenfalls knielanges Kleid anhat, dazu eine Kappe auf dem Kopf. Gleich hinter den beiden gehen die Eltern: Ruchela trägt einen eng anliegenden Rock, Handschuhe und Hut; Zindel trägt Anzug mit Krawatte und dazu ebenfalls einen Hut, hat eine Brille auf der Nase und (wie auf jedem Foto, das ich von ihm besitze) eine Zigarette zwischen den Fingern. Ein groß gewachsener, kräftiger Mann ohne Hut folgt dicht hinter ihnen, fast wie ein Leibwächter. Ihn kenne ich nicht und habe auch nicht herausfinden können, wer er ist. Ein weiterer Mann ist hinter meinem Vater zu erkennen, aber er hat sich von der Kamera weggedreht, als wollte er nachsehen, wo der Rest der Gruppe bleibt. Das Foto ist nicht datiert, aber dem Alter der Kinder nach zu urteilen kann es kaum früher als 1937 aufgenommen sein. Zufrieden sehen sie aus, gut angezogen und ungezwungen, ihre Augen lächeln. Natürlich können Fotos täuschen, aber in gewissen Hinsichten geben sie doch verlässliches Zeugnis. Das hier ist keine gestellte Aufnahme aus dem Fotoatelier; es ist ein Schnappschuss aus dem Leben einer Familie – meiner Familie. Breit und sauber liegt der Gehweg vor ihnen; ihre Kleidung sieht aus wie frisch gebügelt. Mein Vater wirkt als Zehn- oder Elfjähriger größer als auf dem Foto, das Jahre später im Iran von ihm gemacht wurde. Er erscheint fast so groß wie sein Vater, und das täuscht nicht: Auf allen anderen Gruppenfotos der Familie liegt Zindels Arm auf seiner Schulter auf.

      Abbildung 3: Hannan, Regina, Ruchela und Zindel Teitel in Ostrów Mazowiecka.

      Ich kenne ihn nicht, den stolzen, vollkommen unbeschwerten Jungen auf dem Foto, und ich erkenne in ihm auch nicht den Mann, der später mein Vater wurde.

      Der Junge auf dem Foto ist mein Vater vor dem Holocaust, bevor das Wort „Holocaust“ überhaupt geläufig war. Er spricht Polnisch und Jiddisch, dieser Junge, Sprachen, die ich nicht beherrsche. Ihm scheint das Land seiner Geburt kein bisschen von dem Grauen einzuflößen, das man mir später irgendwie vermittelt hatte, ohne dass ich über dieses Land etwas gewusst hätte. Aber damit war ich nicht allein: Alle heutigen Historikerinnen und Historiker, die sich mit der Geschichte der polnischen Juden befassen, müssen die jüdische Vorkriegszeit in Polen gewissermaßen über die Hürde des Holocaust hinweg lesen, vorbei an den Klippen, die Jahrzehnte der historischen Amnesie und des Revisionismus in Kommunismus und Postkommunismus hinterlassen haben. Alles, was ich auf dem Foto sah – den Stoff, aus dem das alltägliche Leben des jungen Hannan gemacht war –, hatten die Nazis ausgelöscht, und die Erinnerung daran war durch ein gutes halbes Jahrhundert Kommunismus und dessen Nachwirkungen ebenfalls ausgelöscht worden. In der zionistischen Geschichtsschreibung, mit der ich aufgewachsen bin, galt „die Diaspora“ grundsätzlich als dem Untergang geweiht. Als ich diese Sichtweise irgendwann beiseiteschob und mich mit den Arbeiten nicht-zionistischer (zumeist deutscher) Osteuropahistoriker vertraut machte, las ich wiederum durch die Brille von deren Vorurteilen und verinnerlichte das Bild, das sie zeichneten: das Bild einer traditionalistischen, rückwärtsgewandten polnisch-jüdischen Gemeinde, „die nur darauf wartete, von den Vertretern der westlichen Aufklärung und Moderne aus ihrem erbärmlichen Urzustand befreit zu werden“.1 Als Bewohnerin der westlichen Welt bin auch ich mit solchen Vorurteilen über Polen aufgewachsen, ohne jemals dort gewesen zu sein.

      Hannans Flüchtlingsjahre haben ihn zweifellos geprägt, aber ich besitze nur wenige fotografische Belege dafür, wie dies im Einzelnen abgelaufen ist: Zwischen Polen und Palästina, zwischen den Familienfotos aus Ostrów und denen aus Haifa, klafft eine gewaltige Lücke. Tatsächlich habe ich außer dem Gruppenfoto aus Teheran, auf dem mein Vater zu sehen ist, überhaupt keine Fotos von ihm, von Regina oder irgendeinem anderen Mitglied der Familie Teitel aus deren Fluchtjahren. Auch öffentliche, allgemein bekannte Bildquellen, die ich hätte heranziehen können, gab es keine – Bilder, die in das kollektive Gedächtnis eingegangen sind wie etwa das ikonische „Foto des Jungen aus dem Warschauer Ghetto“, der mit zur Kapitulation erhobenen Händen auf die Kamera zutritt, oder jenes Foto einer Gruppe befreiter Buchenwald-Häftlinge, das Art Spiegelman in seiner Graphic Novel Maus als Bild in einem Familienalbum aufgreift.

      Von den über eine Million Flüchtlingen jener Zeit gab es keine ikonischen Bilder.

      Den Jungen, der mein Vater war, bevor er weder Flüchtling noch Israeli geworden war, konnte ich wohl nur anhand des Ortes kennenlernen, aus dem er stammte: einer Kleinstadt von etwa zehntausend Einwohnern im Osten Polens. Noch im Jahr 1857 verzeichneten die polnischen Statistiken für Ostrów eine Einwohnerzahl von 3972, von denen 2412 Juden waren – 62 Prozent aller Einwohner. Für das Jahr 1897 wurden dann schon 7914 Einwohner gezählt, darunter 5910 – oder 75 Prozent – Juden. Eine solche Wachstumsrate war in den Ortschaften im polnischen Nordosten keineswegs außergewöhnlich.2 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war beinahe die Hälfte der städtischen Bevölkerung Polens jüdisch. Die Essenz des städtischen Lebens – die Läden und Geschäfte und Wirtshäuser, vor allem in kleineren Städten wie Ostrów – war jüdisch. Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts war Ostrów eine jener Gemeinden gewesen, von denen der Historiker Gershon Hundert geschrieben hat, dass sie „groß genug waren, um die Alltäglichkeit des Alltagslebens in einem jüdischen Kosmos gestalten zu können“.3 Es ist ein wenig irreführend, wenn man die jüdische Bevölkerung von Ostrów im 19. Jahrhundert (oder auch die von vielen anderen polnischen Städten) eine „Minderheit“ nennt. Aber genau so erinnert man sich heute in Polen, in Israel und in den Vereinigten Staaten an jene Gemeinden.

      An Büchern und Fotos zu Ostrów vor dem Zweiten Weltkrieg herrscht kein Mangel, sogar die Brauerei Teitel und andere Mitglieder der Familie sind dort zu sehen. Es gibt Bevölkerungsstatistiken, Geburts- und Todesurkunden, Schulabschlusszeugnisse und Memor- oder Seelengedächtnisbücher (auf Hebräisch auch jiskor genannt). Der Band zu Ostrów Mazowiecka in der Reihe Kehilot Jisrael („Gemeinden Israels“) nennt meinen Urgroßvater Michel Teitel als eine der „Personen aus Ober-Ostrów“: „wohlhabend und aus wohlhabendem Hause“; „ein feiner, edler Mann“; „eine echte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens“; „ein gebildeter Mann, der viele Sprachen beherrschte, aber dennoch der Tora und den Geboten treu blieb“; „ein vollkommener Familienmensch“; „ein Demokrat“; „ein Mann, der sich durch seine Großzügigkeit hervortat, Einzelnen wie auch der Gemeinschaft gegenüber“.4

      Freilich, in einem Memorbuch kommt jeder gut weg – aber die Art, auf die das Lob der Toten angestimmt wird, unterscheidet sich dann doch. Das jiskor-Buch von Ostrów Mazowiecka erinnert an Michel als „eine Person von sanftmütigem Charakter“: „Einerseits ein vollkommener Familienmensch, der zu seiner … Familie eine tiefe Bindung empfand, andererseits ein Mann, der sich unermüdlich für die Gemeinschaft einsetzte, der all seine Zeit und Energie für die Bedürfnisse der anderen einzusetzen bereit war, ob im Privatleben oder in der Öffentlichkeit.“ Gelobt werden auch seine umfassende Bildung („bewandert in moderner Literatur und dem Zeitgeschehen“) und das „überaus angenehme Zusammenspiel seiner Vorzüge“ sowie – noch einmal – seine Neigung zum Dienst an der Öffentlichkeit („wenn er an irgendeiner öffentlichen Aktivität beteiligt war, war der Erfolg schon sicher“).5

      Auf einem Foto, das meinen Urgroßvater Michel Teitel mit seiner Frau Fejge zeigt, schaut er von der Kamera weg. Er trägt einen langen, geknöpften Gehrock und hat seine Hosenbeine in die Stiefel gestopft. Auf dem Kopf hat er eine militärisch wirkende „Russenmütze“, wie sie von orthodoxen Juden gern getragen wurde, weil sie nicht unter das 1850 erlassene Verbot traditionell-jüdischer Kleidung fiel.6 Eine Kippa oder Jarmulke trägt er anscheinend

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