Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel
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Ein Mann, der sich für den „deutschen Stil“ entschieden hatte – und damit gegen den russischen –, durfte sich von Rechts wegen keinen Bart stehen lassen. Ein solcher Mann signalisierte seiner Umgebung, dass er zu jenen zunehmend assimilierten Juden aus der oberen Mittelschicht gehörte, die von ihren polnischen Standesgenossen kaum noch zu unterscheiden waren. Sieht man sich die Fotos von Icok und Zindel jedoch genauer an, dann erscheint ihre Kleidung dennoch ein wenig zu altmodisch, ein kleines bisschen schlechter geschnitten, als man es sich von einem perfekt sitzenden Anzug wünschen würde. Wie Angehörige einer Provinzaristokratie wirken sie, weder fromm und abgesondert noch wahrhaft assimilierte „Polen mosaischen Glaubens“, wie sich die großstädtisch-jüdische Elite von Warschau und Krakau gern nennen ließ. Ihre Schwester Sura, die Ostrów im Alter von zwanzig Jahren in Richtung Warschau verlassen sollte – anders als ihre Brüder war sie nicht für die Arbeit in einer Brauerei gemacht –, sieht auf ihren Fotos schon eleganter aus. In Warschau heiratete sie dann einen Buchhalter namens Adam (Abram) Perelgric, mit dem sie zwei Kinder hatte: Danek (Daniel) und Emma. Auf den Fotos, die Emma mir bei unserem Treffen in Tel Aviv überließ, lässt ihre Mutter keine Spur ihrer frommen Erziehung erkennen: Prächtig hat sie sich in Schale geworfen mit ihrem kräftigen, dunklen Haar, ihren dunkelbraunen Augen, mit knallrotem Lippenstift und Stöckelschuhen. Sie wohnte in der richtigen Gegend – Ulica Sienna 72 –, besaß die richtigen Möbel und die richtigen Kleider und kam nur selten noch nach Ostrów zurück, sondern schickte ihre junge Tochter allein in die Provinz, um dort den Sommer bei ihrer Verwandtschaft aus dem Teitel-Clan zu verbringen.
Einige Jahre später sagte mir Magda Gawin, eine polnische Historikerin, die selbst aus Ostrów stammt, dass die Familie Teitel bekanntermaßen sehr tief in Ostrów verwurzelt war. Tatsächlich zählten die Teitels, wie ich feststellte, zu den drei wohlhabendsten und angesehensten Familien der Stadt, zusammen mit den Nutkiewiczs und den Frejmowiczs. Mein Vorkriegsvater war viel reicher gewesen, als ich es jemals wurde.
*
Fast dreieinhalb Millionen Juden lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in Polen, es war die größte und die sowohl politisch als auch gesellschaftlich am stärksten selbstbestimmte jüdische Gemeinde in ganz Europa: 9,5 Prozent der polnischen Bevölkerung waren jüdisch. Zum Vergleich: Im Deutschen Reich betrug der jüdische Bevölkerungsanteil vor dem Krieg 0,75 Prozent; in Frankreich waren es 0,6 Prozent. Aber eines hatte ich dennoch nicht gewusst, bis mir ein Stammbaum der Familie Teitel in die Hände kam, der von dem Ahnenforschungsverein „Ostrów Mazowiecka Research Family“ erstellt worden war: dass mein Vater Hannan in einen regelrechten Clan hineingeboren worden war – acht Generationen mit jeweils bis zu sieben Kindern in einer Kleinstadt, die noch viel kleiner war als Haifa, der auch nicht gerade großen Stadt in Israel, in der ich selbst zur Welt gekommen bin. Ein gewisser Michel Teitel – geboren 1771, gestorben 1845 in „Ostrów Maz.“ – war der Erste aus der Familie, der in den städtischen Verwaltungsunterlagen auftauchte. Michel, Mikhal. Mein männlicher Namenspatron.
Das Polen, in das Michel Teitel der Erste im späten 18. Jahrhundert aus irgendeinem Winkel des österreichisch-ungarischen Reiches einwanderte, war ein Konglomerat weitgehend autonomer Regionen, über die ortsansässige Adlige und der Klerus herrschten. Dieser lose Zusammenschluss wuchs oder schrumpfte, wurde erobert und annektiert, und irgendwann hörte er dann ganz auf zu existieren – das unabhängige Königreich Polen war Geschichte. Doch über 150 Jahre hinweg, in Kriegen und Hungersnöten, unter antijüdischen Gesetzen und deren Aussetzung, während die Grenzen wanderten und die Machthaber wechselten, blieben die Teitels in Ostrów.
Ihre Firma, Browar Braci Teitel („Brauerei Gebrüder Teitel“), war ein Familienunternehmen unter der Leitung von Hannans Großvater Michel Teitel. Später übernahmen sein Onkel Icok, der an der Münchner Brauerakademie seinen Abschluss gemacht hatte, und sein Vater Zindel als Icoks Stellvertreter, die Geschäfte. Andere Mitglieder des Teitel-Clans waren als Buchhalter oder Abteilungsleiter in der Brauerei beschäftigt; manche Familienmitglieder – wie auch die Familie meines Vaters – wohnten auf dem Gelände der Brauerei. Bei einem unserer Gespräche skizzierte mir meine Tante Regina, die ihr Arbeitsleben als technische Zeichnerin in einem Jerusalemer Architekturbüro verbracht hatte, einen Lageplan des Firmengeländes. In der Mitte war das Hauptgebäude der Brauerei, in dem sich auch die Büros und – im Kellergeschoss – die Mälzerei befanden. Darum gruppierten sich ein Trockenturm mit Blitzableiter sowie Lagerräume für die Gerste, die Flaschen und Korken. Zur Linken stand das eingeschossige Haus, in dem Zindel, Ruchela, Hannan und Regina lebten; zur Rechten ein roter Backsteinbau mit zwei Stockwerken – dort wohnten Hannans Onkel Icok mit seiner Frau und den vier Kindern sowie – im Obergeschoss – die Großeltern Fejge und Michel. Zur Straße hin gab es noch ein paar kleinere Gebäude für verschiedene Zwecke, dazu einen Park- und Ladeplatz für die Kutschen und Lastwagen, die das Bier holten oder Getreide, Holz und Eis brachten. Die Kinder, erzählte mir meine Tante, spielten auf dem Hof Verstecken, zwischen den Holzstapeln und großen Kisten, oder auch im Garten, auf dem rückwärtigen Teil des Areals. (Gut konnte sie sich noch an die rankenden Stangenbohnen und die Apfelbäume erinnern, die dort wuchsen.) Die Teitels waren keine richtigen Landwirte, aber sie besaßen doch ein paar Pferde, Schafe und Kühe, dazu noch weitläufige Gerstenfelder für die Brauerei. Sommergerste war es, die eine gemäßigte Witterung liebt und dann rasch und vollkommen sauber geerntet, gelagert, gemälzt, getrocknet, gemahlen und extrahiert werden musste.
Es schien vollkommen undenkbar, sich Hannan außerhalb dieses Clans aus bestens ausgebildeten Vollzeitbrauern und Teilzeitbauern vorzustellen; nicht etwa, weil dort alles ideal oder ein Familienidyll ohne jeden Konflikt gewesen wäre – Regina hatte mir auch erzählt, dass die Familie 1939 noch nicht einmal zusammen Pessach gefeiert hatte –, sondern vielmehr, weil die Familie und der Familienbetrieb eine feste Grundlage für ihrer aller Zukunft bildete, und damit auch für Hannans Zukunft. Schon im zarten Alter von zwölf Jahren hatte er die Maische gerührt, beim Entladen der Gerstensäcke geholfen sowie, ab und an, die Fahrer auf ihren Runden begleitet. Wäre der Krieg nicht gewesen, so hätte mein Vater wahrscheinlich irgendwann in der Brauerei gearbeitet, Seite an Seite mit seinem Vetter Ze’ev (Wolf) Teitel, dem ältesten Sohn seines Onkels Icok. „Hannan liebte es einfach, in der Fabrik umherzustreifen und mit den Arbeitern und Fahrern zu plaudern. Und alle in der Brauerei liebten ihn; er war so ein fröhliches, freundliches Kind“, wusste Regina mir zu berichten. Sie selbst war wohl ein nicht ganz so freundliches Kind mit einem stürmischen Temperament („unser Kindermädchen Nanja Aslanowa hasste mich, aber deinen Vater hat sie geliebt“). Ihre Launen und Wutausbrüche sorgten dafür, dass sie als ein „kleines Monster“ gefürchtet war, nicht zuletzt vom Kindermädchen der Familie. Sie gab sich nur wenig mit den Brauereiarbeitern oder anderen Personen außerhalb der Familie ab. Sie verließ auch selten das Firmengelände und hatte Ostrów tatsächlich noch nie verlassen, als sie am 6. September 1939 mit einem Mal in die große weite Welt hinausgestoßen wurde.
In den ersten Monaten der deutschen Besatzung verließen, polnischen Quellen zufolge, rund 1,2 Millionen polnische Staatsbürger ihr Land und überquerten die Grenze zur Sowjetunion: Juden waren darunter, andere Polen der Mittel- und Oberschicht, die polnische Intelligenz, Ukrainer, Weißrussen und Litauer, von denen einige während des Ersten Weltkriegs in genau entgegengesetzter Richtung aus Russland nach Polen geflüchtet waren. Die Entscheidung für die Sowjetunion, deren Politik in den dreißig Jahren zuvor mindestens genauso viel Leid über die Region gebracht hatte wie die Deutschen (wenn nicht sogar mehr), lag keineswegs auf der Hand. Bracha Mandel, ein einstiges „Kind von Teheran“ und jetzt eine gute Freundin meiner Tante Regina, versteckte sich mit ihren Eltern in einem Wald nahe