Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel
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An einem schönen, frischen Junimorgen – es war der Tag nach unserem Besuch in Ostrów – machten Salar und ich uns im Fond eines Taxis auf den Weg, um die Strecke nachzufahren, auf der die Familie Teitel von ihrer Heimatstadt nach Siemiatycze gekommen war. Wir brauchten anderthalb Stunden. Sie waren damals tagelang unterwegs gewesen. Auf der Strecke war ihnen das Benzin ausgegangen und sie hatten den Chevrolet-Lastwagen zurücklassen müssen. Stattdessen fuhren sie mit einem Pferdefuhrwerk weiter, für das Zindel notgedrungen ein Vermögen gezahlt hatte. (Momen un domem, sagte mein Vater später bei seiner Zeugenaussage, um den maßlos überhöhten Kaufpreis zu beschreiben – eine talmudische Wendung für eine Unsumme: „Gut und Blut“.) Auch mussten sie einen großen Teil ihrer Habe zurücklassen. Kaum zwei Wochen nach ihrer Flucht war ihnen nicht mehr geblieben als ein großer Koffer, ein Kochtopf mit Zubehör, vier Pelzmäntel, eine große Daunendecke, etwas Bargeld, ihr Schmuck, Uhren und Dokumente. Jetzt waren sie endgültig zu Flüchtlingen geworden, ihr altes Leben war vergangen wie die Blume auf dem Feld.
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Anders als in Ostrów gibt es in Siemiatycze durchaus noch Spuren der jüdischen Vergangenheit: Auf der langen heruntergekommenen Einkaufsstraße der Stadt finden sich hier und da noch Ladenschilder in jiddischer Sprache; die elegante Synagoge aus dem 18. Jahrhundert ist heute ein Gemeindezentrum, das auch eine etwas befremdliche „Ausstellung“ zum jüdischen Leben in der Stadt beherbergt: eine Kippa und ein Schofarhorn; es gibt einen jüdischen Friedhof, auf dem einige Grabsteine noch erhalten sind und der auf Kosten einer „Familie Gutman aus Florida“ instand gesetzt wurde, und betagte polnische Anwohner des Friedhofsgeländes, die gern davon erzählten, wie sie einst von den Fenstern ihrer Häuser aus den jüdischen Trauerzügen zuschauen konnten. Einer Volkszählung aus dem Jahr 1921 zufolge stellten die Juden vor dem Zweiten Weltkrieg ganze 61 Prozent der Einwohnerschaft von Siemiatycze, einem Städtchen mit rund 5000 Einwohnern.
Hannan zog also mit seiner Schwester und den Eltern in die ohnehin schon enge Wohnung über der Textilhandlung Averbuch ein, wo sie mehrere Monate lang blieben. Bis zum Januar 1940 hatten die Russen auf dem Marktplatz der Stadt eine Leninstatue aufgestellt; eine nächtliche Ausgangssperre verhängt; die allgegenwärtigen Kreuze durch rote Sterne ersetzt; Fotos von polnischen Politikern durch Fotos von sowjetischen Politikern ersetzt und die lateinische Beschriftung auf den Straßenschildern durch kyrillische. Sie ließen Transparente mit pro-sowjetischen Parolen aufhängen und ersetzten den polnischen Złoty durch den russischen Rubel im Verhältnis von eins zu eins. Sie erließen Handelsbeschränkungen, legten Höchstpreise fest und verboten Hamsterkäufe – Maßnahmen, mit denen nicht nur die Einwohner der Stadt, sondern genauso die Soldaten der Roten Armee zur Mäßigung gebracht werden sollten, denn diese waren ausgehungert und schlecht gekleidet. Die gut gefüllten Schaufenster von Siemiatycze erschienen den Rotarmisten nur zu verlockend, und so schlugen sie sich anfangs maßlos die Bäuche voll.
Aus Kauf wurde Diebstahl, dann Beschlagnahme und schließlich Enteignung, die Privatfirmen und vormals polnische Staatsbetriebe gleichermaßen traf. Auch die Textilhandlung Averbuch blieb nicht verschont. Binnen weniger Monate war den meisten Einwohnern von Siemiatycze die Lebensgrundlage weggebrochen, ganz gleich, ob sie nun Bauern waren oder Kleinhändler, so wie Ruchelas Familie. Ruchelas ältere Schwester Mascha war zusammen mit ihrem Ehemann Yosef Halberstadt und ihren Kindern Sarah und Hannania, die jeweils etwas älter waren als mein Vater und seine Schwester Regina, aus ihrem Wohnort Siedlce entkommen, den die Deutschen nun besetzt hielten, und zog mit ihrer ganzen Familie ebenfalls in die winzige Wohnung der Großmutter in Siemiatycze ein. Dann jedoch beschlagnahmten die sowjetischen Besatzer das Haus und vertrieben alle drei Familien – Averbuch, Halberstadt und Teitel – in ein nahe gelegenes Dorf. Ihre Möbel und all ihr sonstiges Hab und Gut mussten sie in den überfüllten Räumlichkeiten zurücklassen, die fortan von der Roten Armee genutzt wurden.
Zindel beschloss, dass sie sich auf den Weg nach Kowel machen würden, einer wesentlich größeren, fast 300 Kilometer südöstlich von Siemiatycze gelegenen Industriestadt. Diesen Beschluss fasste er allein, ohne Rat einzuholen oder andere in sein Vorhaben einzuweihen. Damit verhielt er sich noch immer so, wie es auch zwei Monate zuvor seine Angewohnheit gewesen war: „Mein Tate … hat gewollt, dass wir still sind, und ist auch selbst mit keinem Wort herausgerückt“, sollte Hannan später zu Protokoll geben. Bevor sie aufbrachen, und trotz aller Spannungen und allen Elends, feierten sie noch Hannans Bar Mizwa. Sie leerten die letzte Flasche Teitel- Bier, die sie auf ihre Flucht mitgenommen haben, sangen gemeinsam, und mein Vater trug seine alijah vor, den „ersten Tora-Aufruf “, für den er zu Hause in Ostrów monatelang geübt hatte. Als die Kinder am nächsten Morgen aufwachten, wartete bereits ein Pferdegespann auf sie, das die ganze Familie nach Kowel bringen sollte. Dort trafen sie, inmitten einer wahren Flutwelle von anderen Flüchtlingen, Mitte April 1941 ein.
In Kowel war die Lage, wie sich zeigte, noch schlimmer als in Siemiatycze. Ganze Fabriken waren demontiert und ins Innere des Sowjetreiches abtransportiert worden; auch die meisten fertigen Produkte – von Möbeln über Lebensmittel bis hin zu Krankenhaus- und Schulausstattungen, überhaupt alles irgendwie Nützliche – war ebenfalls weggeschafft worden. Die Warteschlangen vor den größtenteils leeren Geschäften, deren Erwähnung in keinem Flüchtlingsbericht aus jener Zeit fehlen darf, zogen sich um ganze Häuserblocks. Insbesondere vor den Lebensmittelgeschäften kam es unter den Wartenden immer wieder zu blutigen, ja sogar tödlichen Auseinandersetzungen. Dem entging Zindel, indem er, wann immer es möglich war, seine Einkäufe auf dem Schwarzmarkt erledigte. „Eine Arbeit, von der man hätte leben können, hat es in Kowel nicht gegeben“, berichtete Hannan später.
Und dabei ist noch jeden Tag die Teuerung gewachsen. … Vor den Geschäften hat man gestanden den ganzen Tag in den „Ogonken“ [von poln. ogonek, „Warteschlange“] und ganz oft ist man wieder weg, wie man gekommen ist, mit leeren Händen. Die Verbitterung, unter den Juden wie unter den Polen, ist gestiegen. Insgeheim hat man schon leis gejammert, aber aus Bange kein lautes Wort gesagt. … Das bissel Geld, das wir von daheim mitgebracht hatten und von dem wir die ganze Zeit gelebt hatten, hat angefangen auszugehen, und Aussicht auf Besserung war auch keine.
Die Fragen, die Mitarbeiter des polnischen „Informationszentrums Ost“ an Hannan und die anderen aus Polen stammenden Flüchtlinge in Jerusalem, im Iran und anderswo richteten, um deren Aussagen zu sammeln, bezogen sich fast ausschließlich auf den entbehrungsreichen Alltag unter sowjetischer Besatzung. Wie ich später herausfinden sollte, war dies nicht ohne Grund so: Es sollte eine belastende Dokumentation geschaffen werden, mit der die sowjetischen Vergehen an polnischen Bürgern zweifelsfrei belegt werden konnten, um die Errichtung eines bolschewistischen polnischen Staates nach dem Krieg zu verhindern. Doch gingen die Zeugenaussagen über ihren ursprünglichen Zweck hinaus. Sie erlaubten Einblicke in die Lebens- und Gefühlswelt Einzelner („Mein Tate … ist herumgelaufen wie depressiv“) und ließen sogar das spannungsreiche Miteinander von Juden und Polen erkennen, das die Mitarbeiter des „Informationszentrums Ost“ ja gerade im bestmöglichen Licht präsentieren wollten. Daher scheint klar, dass die Zeugenaussagen nicht – oder zumindest nicht tiefgreifend – redigiert oder gar zensiert wurden.
Aus dem Protokoll von der Befragung meines Vaters geht die unaufhaltsame Zerrüttung seines eigenen Vaters hervor. Zindel war letztlich nicht in der Lage, sich an die neue Situation anzupassen, und sein Herkunftsmilieu, seine Fertigkeiten und seine Weltanschauung standen im direkten Gegensatz zu der Art von Durchtriebenheit und Raffinesse, die in der gegenwärtigen Lage von Nutzen gewesen wären. Er hatte weder Beziehungen zu den Kommunisten noch zu den Bundisten – den Anhängern der jüdischen Arbeiterbewegung –, ja er empfand vielmehr eine tiefe Abneigung gegen beide. Seine gute Kleidung und seine feinen Manieren waren nun eher ein Nachteil für ihn, brandmarkten sie ihn doch als „Bourgeois“ und damit als ein potenzielles Opfer für die kommunistischen Milizen in der Stadt. „Mein Tate, der das Spekulieren nicht gewohnt war und hat auch nicht können müßiggehen, ist herumgelaufen wie depressiv [a dershlagener]“, erinnerte sich Hannan. „Immer hat er gewollt, dass