Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel

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Die Kinder von Teheran - Mikhal Dekel

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Icok traf eine Entscheidung, die der seines Bruders Zindel genau entgegengesetzt war. Er beschloss, nicht nach Ostrów zurückzukehren. Stattdessen gab er, zusammen mit dem Rest seiner Familie, die polnische Staatsbürgerschaft auf und nahm die sowjetische an. Binnen weniger Monate wurde er zum Oberinspektor für das Brauereiwesen in der Woiwodschaft Białystok ernannt.

      *

      „Als ich dir erzählt habe, Hannan hätte später nie vom Krieg erzählt, war das nicht ganz richtig“, sagte ich zu Salar, als wir zum Zug gingen, der uns von Białystok zurück nach Warschau bringen sollte. (Am Bahnhof warteten auch noch ein paar israelische Punkmusiker, die uns bekannt vorkamen.) Tatsächlich hatte es eine Geschichte gegeben, die mein Vater immer und immer wieder wiederholt hatte: die Geschichte von zwei Brüdern, die während des Krieges zwei unterschiedliche Entscheidungen getroffen hatten. Der eine hatte die „falsche“ Entscheidung getroffen – nämlich in das von den Nazis besetzte Polen zurückzukehren – und hatte dennoch überlebt; der andere hatte die „richtige“ Entscheidung getroffen – in der Sowjetunion zu bleiben nämlich – und war gestorben. Mir und meinen Geschwistern erzählte unser Vater diese Geschichte nicht etwa, weil er Zeugnis ablegen oder uns eine Geschichtsstunde geben wollte, sondern es ging ihm um eine harte moralische Lektion: dass unser Leben von bitterer Ironie bestimmt war, menschliches Handeln weitgehend vergeblich und rationale Entscheidungen schlicht bedeutungslos, wenn man mit den beherrschenden Mächten des Universums konfrontiert wurde. Es war eine gleichermaßen stoische wie pessimistische Philosophie, die unser Vater uns da vermittelte, und es war nicht so, dass er sie bewusst gelebt hätte – aber unbewusst hatte sie vielleicht seine Karriere gebremst oder ihn zumindest über die diversen nachteiligen (wenn auch nicht lebensgefährlichen) Entscheidungen hinweggetröstet, die er selbst in beruflicher und privater Hinsicht über die Jahre getroffen hatte.

      Salar erzählte mir von den Mitgliedern seiner Familie, die den Iran rechtzeitig genug verlassen oder schon Teile ihres Vermögens ins Ausland gebracht hatten, während sein Vater geblieben war. Im Februar 1979 bemächtigten sich die Revolutionäre des Fußballclubs „Persepolis“, den Ali Abdoh in Teheran aufgebaut hatte; auch den Sport- und Fitnessclub nach amerikanischem Vorbild, den er betrieb, konfiszierten sie, zusammen mit seinem restlichen Besitz an Immobilien. Kurz darauf wurde sein Name auf eine schwarze Liste potenzieller Verhaftungskandidaten gesetzt. Im Mai stand Ali plötzlich vor den Toren des Internats im englischen Wellington, wo Salar und seine Brüder Sardar und Reza zur Schule gingen: Die Jungen sollten ihre Sachen packen, um mit ihm nach Los Angeles zu fliegen. Doch der Stress der letzten Zeit hatte ihm bereits schwer zugesetzt, und binnen Monaten erlitt er einen tödlichen Herzinfarkt. Die Abdoh-Brüder blieben allein zurück, ohne Zuhause und ohne Geld, als illegale Einwanderer, die durch die Vereinigten Staaten zogen. „Man gewöhnt sich schnell daran“, sagte Salar, als wir durch die menschenleeren, hübschen Straßen von Białystok spazierten. „Man denkt irgendwann gar nicht mehr darüber nach. Man schaut sich einfach um, schätzt die neue Lage ein und tut das Nötige, um zu überleben.“ Gab es so etwas wie den typischen „Kinderflüchtling“, fragte ich mich, der zu allen Zeiten und in allen Ländern letztlich derselbe blieb? Oder konnte man das doch nicht vergleichen – ein Überleben im Krieg, ohne Nahrung, im Land der Gestapo, mit dem Überleben im Überfluss, im Los Angeles der 80er-Jahre?

      „Essen gab es genug in Amerika“, meine Salar, „aber eine ganze Zeit lang hatten wir keine Ahnung, wie wir davon etwas abbekommen sollten.“ Salar war damals ein Junge, ein Teenager. Teenager – wie mein Vater in den Kriegsjahren einer gewesen war, wie mein eigener Sohn nun einer war – sind knurrende Mägen auf zwei Beinen. Teenager sind immer hungrig. Salar und seine Brüder schlugen sich mit Gelegenheitsjobs durch, bekamen so auch etwas zu essen ab (allerdings nie genug), aber sie bekamen auf den Straßen von L. A. auch immer wieder Ärger: „Das war hart“, erinnerte Salar sich, „aber mit der Situation deines Vaters kann man es wirklich nicht vergleichen.“ Dabei war uns beiden noch gar nicht bewusst, wie viel schlimmer die „Situation“ meines Vaters im weiteren Verlauf noch werden sollte.

      „Wie hat sich das anfangs angefühlt? War dir sofort klar, dass dein altes Leben, wie du es kanntest, jetzt für immer vorbei war?“, löcherte ich Salar mit Blick auf den abrupten Übergang von seinem privilegierten – wenn auch nicht gänzlich glücklichen – Dasein als reiches Perserbürschchen an einer britischen Privatschule zu einem Leben als obdachloser Teenager im Amerika der Reagan-Ära. Ich versuchte mir vorzustellen, wie lange mein Vater wohl gebraucht hatte, um die Gewohnheiten und den Habitus eines verwöhnten, standesbewussten Sprösslings aus reichem Hause abzulegen, als der er mir auf den Fotos aus Ostrów entgegenblickte. „Ich hab’s sofort begriffen“, antwortete Salar. „Wenn du mittendrin steckst, denkst du nicht darüber nach, wie mies die Lage gerade ist. Also, schon irgendwann. Aber zunächst mal musst du sehen, wie du von einem Tag zum nächsten über die Runden kommst. Ein Dach über dem Kopf brauchst du, die allernötigsten Dinge für den Alltag, solche Sachen. Aber man setzt sich nicht hin und heult, weil man alles verloren hat. Dafür hast du gar keine Zeit. Oder vielleicht ist man auch nur zu jung, um wirklich verstehen zu können, was einem da Ungeheures zugestoßen ist.“

      *

      Als im April 1940 eine Kampagne gestartet wurde, um den Menschen in den von der Roten Armee besetzten Gebieten sowjetische Pässe aufzunötigen und sie damit zu Sowjetbürgern zu machen, zogen es Hunderttausende von Juden und anderen polnischen Staatsbürgern vor, aus dem sowjetisch besetzten in den von der Wehrmacht besetzten Teil Polens zu ziehen. Einige von ihnen misstrauten den Russen, ja sie hassten die Sowjetunion sogar mit einer Heftigkeit, die auf ohnehin hohem Niveau weiter zunahm. Andere fürchteten, dass sie durch die Preisgabe ihrer polnischen Staatsbürgerschaft auf unbestimmte Zeit in der Sowjetunion festsitzen würden wie die Mäuse in der Falle. Wieder anderen hatte das Leben auf der Flucht, hatten die immer schlechter werdenden Lebensbedingungen in den Städten entlang der Grenze derart zugesetzt, dass sie nun meinten, zu Hause müsse es doch immerhin etwas besser sein.

      „Mein Vater … wollte den sowjetischen Pass nicht annehmen. Er sagte, er erstickt in der hiesigen Luft.

      Mein Vater wollte den sowjetischen Pass nicht annehmen und ließ sich wie alle unsere Nachbarn aus dem Bethaus für die Rückreise nach Hause registrieren.

      Mein Vater wollte den sowjetischen Pass nicht annehmen, und meine Mutter überredete ihn, dass er uns für die Rückkehr registrieren lässt, weil wir dauernd vom Hunger bedroht waren.

      Meine Eltern wollten die sowjetische Staatsbürgerschaft nicht annehmen, weil sie fürchteten, sie dürften dann Russland nicht verlassen.

      Mama wollte die sowjetische Staatsbürgerschaft nicht annehmen, weil es hieß, dass wir dann nie mehr Russland verlassen und Vater wiedersehen könnten.

      Mein Vater sah, dass das Leben bei den Sowjets immer schwerer wurde, und beschloss, uns für die Rückreise registrieren zu lassen. Mein Vater ließ uns registrieren, weil von der anderen Seite Nachrichten herüberkamen, dass die Situation besser geworden ist und die Leute genug zum Leben verdienen, und hier wurde es immer schlechter.“7

      Und im „Protokoll Nummer 26“, der Aussage meines Vaters, heißt es:

      „Die Russen haben Plakate in den Gassen ausgehängt, man sollte sich registrieren kommen, und jeder, der heimfahren wollte, würde an den Ort geschickt werden, wo er hinwill. Da hat mein Vater nicht lang überlegt und hat einen Registrierungsbogen ausgefüllt, dass er zurück auf die deutsche Seite will, nach Ostrów Maz.“

      „Unser Vater hat die Kommunisten gehasst“, erzählte mir meine Tante Regina später, ganz so, als hätte Zindel seine Entscheidung aus rein ideologischen Gründen getroffen, nach festen, nur eben leider irrigen Grundsätzen. Sie sagte mir nicht, was Hannans Zeugenaussage nahelegte, dass nämlich ihr Vater in eine tiefe, vollkommen teilnahmslose Depression verfallen war oder dass ihm ganz einfach die Fertigkeiten fehlten, um sich in der halsabschneiderischen Flüchtlingswelt im sowjetisch besetzten Gebiet

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