Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel
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Mitte November 1939 erhielt Zindel einen aufmunternden Brief „von der anderen Seite des Flusses Bug, wo die Deutschen waren und wo mein Tate sein ganzes Vermögen gehabt hat“, wie es in Hannans Bericht heißt. Ein Onkel aus der Gegend von Sokołów Podlaski, einer Kleinstadt südöstlich von Ostrów, berichtete den Verwandten in Kowel, dass „die [Hohen] Feiertage bei ihm ohne alle Schwierigkeiten verlaufen waren“ – selbst unter deutscher Besatzung im neu errichteten „Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete“. Daraufhin erwog Zindel, mit seiner Familie nach Ostrów zurückzukehren. Also gingen die Teitels zunächst zurück nach Siemiatycze, und als dort Plakate auftauchten, mit denen alle Rückkehrwilligen aufgerufen wurden, sich für ihre Wiedereinreise in das Generalgouvernement bei einer örtlichen Regierungsstelle registrieren zu lassen, wurden die Pläne der Familie für eine Heimkehr immer konkreter.
„Vielleicht wird es uns irgendwie gelingen, über die Grenze zu kommen“ und zurück in das deutsch besetzte Polen, so schilderte später Hannan seinen damaligen Blick in die Zukunft.
*
Von Siemiatycze fuhren Salar und ich weiter nach Białystok, auf der Straße, der mein Großvater dann doch nicht gefolgt war, anders als sein Bruder Icok mit Familie, die gemeinsam mit Zindel und den Seinen aus Ostrów geflohen waren. In dem hübschen, verschlafenen, aber auch irgendwie nichtssagenden Städtchen Zambrów, das Salar und ich unterwegs passierten, trennten sich die beiden Familien hastig und schlugen – jede in ihrem eigenen Lastwagen – getrennte Wege ein. Zindel fuhr nach Süden in Richtung Siemiatycze, Icok nordwärts nach Białystok. Die beiden Brüder sollten sich nie mehr wiedersehen.
Eigentlich war es für die Ostrówer Teitels nur logisch, sich bei Kriegsausbruch in Richtung Białystok zu orientieren. Schließlich war es nicht nur die größte Stadt im polnischen Nordosten, noch dazu mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit (bei einer Volkszählung im Jahr 1897 hatten sich von 66 000 Einwohnern ganze 41 900 als Juden bezeichnet, 1939 gab es etwa 51 000 Juden in der Stadt); sondern zur jüdischen Oberschicht von Białystok, ebenso wohlhabenden wie selbstbewussten Händlern und Kaufleuten, gehörten auch etliche Kunden der Brauerei Teitel, die in der Stadt eine Niederlassung betrieb. Białystok war ein Zentrum des Zionismus und des jüdischen Lebens überhaupt: Es gab die Scholem-Alejchem-Bibliothek mit ihren mehr als 20 000 Bänden in jiddischer Sprache, eine wunderschöne Chorsynagoge und nicht zuletzt das Hebräische Gymnasium, an dessen Gebäude Salar und ich auf unserem Stadtrundgang vorbeikamen – heute residiert dort ein Versicherungsunternehmen. Eine wirkliche Schönheit war diese Stadt, eine Perle des alten Mitteleuropa, deren Aura uns sofort in ihren Bann geschlagen hatte, als wir am frühen Nachmittag in das Zentrum hineingefahren waren: Auf den eleganten Bauten im neoklassizistischen Stil lag goldenes Sonnenlicht, die Straßen und die Cafés waren voller Menschen.
Unsere ortskundige Führerin in Białystok, Lucia (Lucy) Gold, eine zierliche, blonde Kettenraucherin, mit der wir uns am Hotel Branicki treffen wollten, war eine Vertreterin des jüdischen Kulturvereins in der Stadt. Tatsächlich war sie gewissermaßen dieser Kulturverein, wie sie uns selbst sagte, denn schließlich kämpfe sie auf eigene Faust dafür, das großartige jüdische Erbe von Białystok zu erhalten und vor dem Vergessen zu bewahren. Wie unser Begleiter in Ostrów, Krzysztof „Kris“ Malczewski, und wie beinahe alle anderen Jüdinnen und Juden, die wir in Polen kennenlernten, hatte zwar Lucy nur ein jüdisches Elternteil, gehörte damit aber dennoch zu der verschwindend kleinen Gruppe jüdischer Polen, die nicht nur den Zweiten Weltkrieg in Polen überlebt hatten (oder dorthin zurückgekehrt waren), sondern auch die antisemitischen Wellen der späten 1950er- und der 1960er-Jahre. Anders als Krzysztof jedoch gab sich Lucy auch offen und öffentlich als Jüdin zu erkennen – vielleicht lag es ja daran, dass sie alles in allem weniger aufgekratzt, vorsichtiger und zurückhaltender, ja sogar ein wenig depressiv wirkte; an der Tür zu ihrem Büro, erzählte sie uns bei unserem Stadtrundgang mit gesenktem Blick und einem müden Lächeln, musste sie regelmäßig Hakenkreuz-Schmierereien entfernen. Am Tag unserer Ankunft ging in der Stadt gerade ein jüdisches Kulturfestival zu Ende, das Lucy organisiert hatte, mit jüdischem Essen, jüdischen Büchern, jüdischer Musik. Den großen Abschluss bildete das überaus gut besuchte Konzert einer Punkband aus Israel. Als die über und über tätowierten Musiker anschließend zu Lucy kamen, um sich von ihr zu verabschieden, trat ein sanftes Leuchten in ihre Augen.
Bei unserem Gang durch Białystok wurde bald klar, dass hinter jeder lichten Ecke, hinter jeder sonnenüberströmten Fassade an den elegant-großzügig angelegten Boulevards der Stadt eine ebenso reiche wie düstere Geschichte schlummerte. Das verführerische Kaffeehaus Wiener Art am Kościuszko-Platz – dessen Kaiserschmarrn und Apfelstrudel uns schon vor dem Schaufenster das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen, bevor wir sie uns dann drinnen schmecken ließen – befand sich an genau der Stelle, wo deutsche Einsatzgruppen weniger als zwei Jahre nach Großonkel Icoks Eintreffen in der Stadt Hunderte von Juden erschossen hatten. Aber an dem ganz normalen, ein wenig verträumten Nachmittag im Juni 2012, als wir dort einkehrten, erinnerte nichts an das schreckliche Verbrechen, das die Nazis hier verübt hatten – und nichts erinnerte an die Flüchtlingskrise vom Oktober 1939, als Icok Teitel und die Mitglieder seiner Familie – darunter auch Hannans Großmutter Fejge und seine Cousine Emma, die nach dem Ausbruch des Krieges nicht mehr zu ihren Eltern nach Warschau zurückgelangen konnte – in Białystok ankamen.
Białystok veränderte sich unter sowjetischer Besatzung sogar noch dramatischer als Siemiatycze oder Kowel. Binnen weniger Monate war seine jahrhundertealte Textil- und Lederindustrie vollständig zerlegt und in Richtung Osten abtransportiert worden. Überall in der Stadt lagen große Haufen von Schutt und Abfall, für den sich niemand mehr verantwortlich fühlte, während unzählige Flüchtlinge so lange in die Stadt strömten, bis sie nur noch hineingeschmuggelt werden konnten:
„Als wir in Białystok einfuhren, war die Stadt mit Flüchtlingen überfüllt, und wir bekamen gerade noch einen Winkel in der Schule.
In Białystok war es nicht einfach, ins Bethaus zu kommen, das mit Flüchtlingen überfüllt war, die keine Neuen mehr hineinlassen wollten. Zum Glück trafen wir dort ein paar Bekannte.
In Białystok vagabundierten wir auf den Straßen herum, ehe wir einen Winkel im überfüllten Bethaus in der Jerozolimska-Straße [„Jerusalemer Straße“] bekamen.
In Białystok gab es eine Menge Flüchtlinge, und wir konnten keine Wohnung finden, und der Säugling schrie immerzu. Meiner Stiefmutter brachen fast die Arme ab von dem ständigen Herumgetrage, und sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Wir gingen von Haus zu Haus, bis sich schließlich eine Frau unser erbarmte, die mit vier Personen in einer winzigen Stube wohnte, und nun waren es acht. In der Nacht schrie das Kleine, aber meine Stiefmutter hatte keine Milch.“6
Bis Anfang 1940 war Białystok zur Stadt mit dem größten Flüchtlingsaufkommen im ganzen sowjetisch besetzten Teil Polens geworden. Im Frühjahr desselben Jahres wurden die allermeisten Flüchtlinge aus der Stadt in die umliegenden Dörfer getrieben, wo die Sowjets den Landbesitz umverteilten. Man wies sie an, sich auch künftig auf mindestens hundert Kilometer von der Grenze zum deutschen Generalgouvernement fernzuhalten. Icok gelang es, in Białystok zu bleiben, aber an eine Rückkehr nach Ostrów wagte er nicht zu denken.
Vielleicht war es sein stärker ausgeprägter Geschäftssinn, der meinen Großonkel Icok sehr viel schneller als meinen Großvater Zindel zu der Einsicht brachte – unter dem Eindruck der neuen Musik, die durch die Straßen schallte; der Propagandasendungen im Rundfunk; der aufgerissenen Rasenflächen und Bürgersteige und der toten Blumenbeete, die wieder üppig blühten, als Salar und ich durch Białystok spazierten –, dass ihre Welt sich unwiderruflich gewandelt hatte. Und je eher sie sich nun anpassten, desto besser. Oder vielleicht hatte Icok sich auch nur durch den ständigen Zustrom neuer Flüchtlinge nach Białystok ein genaueres Bild von den verheerenden Lebensbedingungen im deutsch besetzten Generalgouvernement machen können. Vielleicht hatten ihm ja sogar entkommene Ostrówer Mitbürger