Sozialpädagogische Familienhilfe. Hans-Ulrich Krause
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Spitz’ besondere Methode, die ihm dabei half, die Veränderungen der Kinder über längere Zeiträume hinweg wirklich wahrzunehmen, war der Film. Er machte Aufzeichnungen von diesen Kindern und konnte damit Material erzeugen, das immer wieder betrachtet werden konnte, um so nötige Rückschlüsse zu ziehen. So gesehen hat Spitz nicht nur die Erkenntnis geliefert, dass Kinder zu ihrer gedeihlichen Entwicklung unbedingt Zuwendung, emotionale Nähe, menschliche Solidarität brauchen, weil sie sonst sogar Gefahr laufen zu sterben. Er machte auch deutlich, dass es nötig ist, wirklich genau hinzusehen. Beide Aspekte, menschliche Zuwendung und detaillierte Beobachtungen, stellen Inhalte dar, die sich in professionellen Haltungen wiederfinden sollten (vgl. Spitz 1982/1991, 1965/2004).
Hier schließt der Gedanke von Emmi Pikler, Kinderärztin und Therapeutin sowie Leiterin eines berühmten Kinderheims in Budapest, an. Das »Lotzy«, wie das Heim genannt wurde, beherbergte vor allem Säuglinge und Kleinkinder, die keinen oder kaum Kontakt zu ihren Eltern hatten. Auch hier ging es also um die intensive Zuwendung der Erwachsenen zu den Kindern. Doch Pikler ging in zwei Punkten weiter. Zum einen verweist sie auf die Notwendigkeit der »Pflegehandlungen«. Dabei geht sie davon aus, dass sich die betreuenden Personen den Kindern im Handeln bewusst und direkt zuwenden müssen. Es geht dabei um die ruhige, freundliche Stimme, die freudbetonte Begegnung, die tragende Nähe, die Berührungen der Haut unter der Akzeptanz des Willens des Kindes usw. Und es geht um gute Versorgung: gutes Essen, Trinken, Wärme, Sauberkeit und Anregung zum Spiel und zum Entdecken.
Dabei stoßen wir auf den zweiten Aspekt. Pikler sagt: Die Kinder müssen ihre Arbeit machen, und meint damit, dass sie es selbst sind, die ihren Weg gehen. Sie spielen und ergründen, sie befühlen und betrachten, sie experimentieren und erzeugen. Sie entwickeln sich und dabei kann der Erwachsene, also auch die Fachkraft, zwar unterstützen, doch die Entwicklung selbst müssen die Kinder alleine schaffen. Damit wird das Kind zum Subjekt seiner selbst. Eine Erkenntnis, die in den letzten Jahren in ihrer Bedeutung zunehmend vernachlässigt wurde. Schließlich ist es derzeit angesagt, jede Regung des Kindes zu beobachten und zu beeinflussen, Entwicklungsschritte herbeizuzwingen und jedes noch so kleine Gefahrenmoment aus dem Weg zu räumen. Die Erkenntnisse Piklers sind wegweisend und sehr gut belegt. Immerhin ist die Einrichtung, die sie viele Jahre lang geleitet hat, die einzige, die über die gesamte Zeit evaluiert wurde und die damit belegen konnte, wie zutreffend die beschriebenen Positionen sind. Mit anderen Worten: Es geht um Haltungen, nämlich um diejenige, wie das Kind gesehen wird. Und von Emmi Pikler können wir auch heute übernehmen, dass Kinder in der Pflegehandlung deutliche Zuwendung brauchen, dass sie aber gleichzeitig als aktive Gestalter*innen ihrer selbst akzeptiert werden müssen (Fürsorge versus Autonomie) (vgl. Pikler/Tardos 1997/2001).
Beide hier vorgestellten Personen haben ihre Haltungen durch wissenschaftliche Arbeiten und Erkenntnisse unterlegt. Dies war eine wichtige Basis, um diese öffentlich zu vertreten und zu begründen. Person und Wissen bilden also eine Einheit.
Warum es unabdingbar ist, eine professionelle Haltung zu haben und vertreten zu können
Sozialarbeiterische Themen sind eng mit gesellschaftlichen Diskursen verbunden. Wie bspw. Erziehung in Familien betrachtet wird, wie Notlagen von Familien eingeschätzt werden oder wie elterliches Versagen beim Schutz ihrer Kinder diskutiert wird, ist nicht einmalig geklärt, sondern wird öffentlich und fachbezogen immer wieder neu verhandelt. Es gibt darüber keinen Konsens, der einmalig hergestellt werden kann. Sehr unterschiedliche Meinungen und Überzeugungen versuchen auf politischer Ebene, je nach ›Wetterlage‹, an Einfluss zu gewinnen. So gab es seit Bestehen der Bundesrepublik Phasen, in denen bspw. eine hohe Solidarität mit Familien in Not- und Problemlagen vorherrschte und soziale Unterstützung gefördert wurde. Dies war in einer Zeit, in der Ungleichheits- und Benachteiligungslagen als Struktur der kapitalistischen Gesellschaft kritisiert wurden und es um einen sozialen Ausgleich ging, der natürlich errungen werden musste. Ende der 1990er Jahre erreichte auch Deutschland eine aktivierende Sozialpolitik, deren Folge ist, dass Not- und Problemlagen häufig individualisiert werden. Die Verantwortung zur Überwindung belastender oder schwieriger Lebenssituationen wird nunmehr den Familien übertragen. Dazu gehört auch, die sozialstaatliche Hilfe zielgerichtet zu nutzen. Gelingt dies den Familien nicht, wird im Rahmen der aktivierenden Sozialpolitik zunehmend kontrolliert und sanktioniert. Die Toleranz gegenüber diesen Familien sinkt auf null (vgl. Winkler 2004, S. 7).
Diese allgemeinen Bedingungen prägen auch die Erwartungen an die Sozialpädagogische Familienhilfe. Lange Zeit galt es im gesellschaftlichen Diskurs als professionell und unwidersprochen, dass Veränderungen in Familien Zeit brauchen. Familienhelfer*innen waren in der Rolle, dafür entsprechend Geduld aufzubringen und auch nach Phasen des Widerstands und des Scheiterns die Arbeit mit der Familie in einem entsprechenden zeitlichen Rahmen fortzusetzen (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009). In den letzten Jahren werden allerdings bspw. in der Presse Erwartungen formuliert, dass Familienhelfer*innen auch dafür verantwortlich sind, wie sich Familien verhalten, ob Eltern gut für ihre Kinder sorgen etc. Die Verantwortung der Familien wird also an die Sozialarbeiter*innen delegiert. Nun können Fachkräfte sich diesem Mainstream ergeben und sich rechtfertigen, wenn es nicht in jedem Fall funktioniert. Sie können die Verantwortung für die Familien, insbesondere für die Kinder, übernehmen und an Stelle der Eltern handeln. Damit würden sie allerdings einen wichtigen Grundsatz der Sozialen Arbeit, nämlich den der ›Hilfe zur Selbsthilfe‹, aufgeben. Und die Eltern und Kinder würden nichts Neues lernen, da sie für die Verbesserung ihrer Lebenssituation nicht handelnd aktiv werden können.
Fachkräfte können aber auch, wie bspw. René Spitz und Emmi Pikler, ihre fachlich fundierten Sichtweisen in den Diskurs einbringen, um diesen zu bereichern. Wir empfehlen letzteres, da es aus unserer Sicht sinnvoller ist, die strukturellen Bedingungen mit zu beeinflussen – es zumindest zu versuchen –, als sich diesen zu ergeben. Dies wird der fachlichen Arbeit und den Familien eher gerecht, als die Erfüllung teilweise unmöglicher Aufgaben.
Sozialarbeiter*innen mussten sich zu jeder Zeit mit den Erwartungen der jeweiligen Gesellschaft auseinandersetzen und sich zu diesen positionieren. Die Anforderungen im Verlauf der letzten hundert Jahre waren dabei phasenweise diametral entgegengesetzt: in der Kaiserzeit, der Weimarer Republik, der NS-Zeit, der BRD, der DDR, dem wiedervereinigten Deutschland seit 1989. Die Bedingungen der demokratischen Verfasstheit unserer Gesellschaft bieten allerdings den Rahmen, mitzureden und mitzugestalten. Dies beginnt zumeist in den konkreten beruflichen Zusammenhängen, dem Kontakt mit den Familien, den Kolleg*innen, den Kooperationspartner*innen, in regionalen Arbeitsgruppen bis hin zum Engagement in Fachverbänden etc.
Was sind nun aktuelle fachliche Themen im Kontext der Familienhilfe, zu denen Fachkräfte eine Haltung entwickeln sollten und sich in den Diskurs einbringen können? Es seien im Folgenden einige Aspekte genannt.
Jugendämter wurden damit konfrontiert, ihre fachbezogenen Aufgaben zu reduzieren und sich mehr auf Management- und Steuerungsaufgaben zu konzentrieren. Diese Entwicklung von Fach- zu Verwaltungsorganisationen wird inzwischen vielerorts als problematisch eingeschätzt, da die Kernaufgaben des Jugendamts sich auf die Entwicklung und Umsetzung fachlicher Themen beziehen. Den Fachkräften in Jugendämtern wurden gewissermaßen die Arbeitsgrundlagen entzogen, was sich inzwischen bundesweit als ernstzunehmendes Problem zeigt (vgl. Beckmann/Ehlting/Klaes 2018). Hinzu kommt, dass im Kinderschutz Einschätzungsbögen und andere auf Rationalisierung abzielende Arbeitsansätze Einzug hielten. Und insgesamt wurde sozialpädagogisches Handeln mit dem Thema