zu lassen, und der überhaupt entschiedenen und tatkräftigen Charakters war, entschloss sich, für das Wohlergehen des Bruders der Gefahr zu trotzen, und sprach: »Unrecht haben wir gegen dich, o Landpfleger, begangen und Strafe verdient, der wir uns alle unterziehen wollen, obgleich nur der Jüngste die Schuld trägt. Eigentlich müssten wir seinetwegen an unserer Rettung verzweifeln, aber doch lässt uns deine Güte noch einige Hoffnung hegen und eröffnet uns Aussicht auf Befreiung aus der Gefahr. Sieh daher nicht uns an noch die Tat, die wir verbrochen, sondern lass walten deine Herzensgüte und Tugend. Den Zorn aber, von dem kleinliche Menschen sich in allen Lebenslagen so leicht hinreißen lassen, weise ab von dir, lasse dich nicht von ihm überwinden und überantworte nicht die dem Verderben, die um ihr Heil nicht selbst Sorge tragen können, dasselbe von dir vielmehr flehentlich erbitten. Denn nicht zum ersten Mal zeigst du dich freigebig gegen uns, sondern du hast uns, als wir zu dir kamen, um Getreide zu kaufen, dazu Gelegenheit gegeben und uns so viel davon überlassen, als nötig war, um unsere Familie vor dem Hungertode zu bewahren. Es ist aber kein Unterschied, ob du dich der Darbenden annimmst und sie vor dem Untergang bewahrst oder ob du die von Strafe freisprichst, von denen die Menschen glauben, dass sie gefehlt haben, und die sie um der Wohltätigkeit willen beneiden, welche du ihnen erzeigst. Es ist ganz dieselbe Gnade, wenngleich sie in verschiedener Weise erzeigt wird. Erhalte also die, welche du bis jetzt gespeist hast, und rette uns das Leben, wie du uns vor dem Hungertode bewahrt hast. Es ist ebenso groß und bewunderungswürdig, uns das Leben zu schenken, als es durch Freigebigkeit vor dem Untergange zu bewahren. Ich halte dafür, dass Gott dir nur den Weg zur Vermehrung deines Ruhmes hat zeigen wollen, als er uns in dieses Unglück stürzen ließ, damit du nämlich ebenso viel Ruhm erlangest durch Vergebung des Unrechtes, das wir dir zugefügt, wie du schon erworben hast durch menschenfreundliche Unterstützung derer, die aus anderen Gründen deiner Hilfe bedurften. Denn es ist etwas Großes, denen zu helfen, die in Not sind; doch noch viel größer und herrlicher ist es, die zu begnadigen, die sich durch Frevel Strafe zugezogen haben. Und wenn es schon zu großem Lobe gereicht, kleinere Vergehen zu verzeihen, so reicht es doch fast an Gott selbst heran, den Zorn zu bezähmen und denjenigen zu verzeihen, die uns beleidigt und so das Leben verwirkt haben. Hätten wir nicht einen Vater, der sich um Josephs Tod abhärmt und der sich so schwer um den Verlust seiner Kinder grämt, so hätte ich nicht so viele Worte um unser Leben verloren, wenn ich es nicht in Ansehung deiner Güte getan hätte, der du es für erhaben hältst, denen das Leben zu schenken, die nach ihrem Tode niemand beweinen würde; vielmehr hätten wir mit Gleichmut die Strafe erlitten, die du über uns verhängen würdest. Jetzt aber, da wir nicht mit uns selbst Mitleid haben, obzwar wir noch jung sind und noch wenig von des Lebens Genüssen gekostet haben, sondern vielmehr mit unseres Vaters Greisenalter, bitten wir dich inständig und flehentlich, du wollest uns das Leben schenken, das wir durch unsere Übeltat gegen dich verwirkt haben. Denn unser Vater ist nicht schlecht und hat auch uns nicht so erzogen, sondern er ist ein rechtschaffener und ehrbarer Mann, der ein solches Geschick nicht verdient hat und jetzt wegen unserer langen Abwesenheit von Kummer und Sorgen gequält wird. Wenn er aber von unserem Tode und dessen Ursache Kunde erhielte, so würde er umso eher wünschen, aus dem Leben scheiden zu können; er würde sich verzehren in Trauer, und unsere Schmach würde seinen Tod beschleunigen und überdies ihn in Trostlosigkeit sterben lassen, da er doch jetzt schon, noch ehe er Nachricht über uns erhalten, fast von Sinnen ist. Bedenke dies doch, und wenn auch unsere Tat deinen Zorn erregt hat, so lass dem Vater zulieb Gnade walten und dein Mitleid mit ihm größer sein als unsere Ruchlosigkeit. Habe Rücksicht auf sein Greisenalter; er würde, wenn wir umkämen, in Verlassenheit leben und sterben. Denn indem du so handelst, ehrst du auch deinen eigenen Vater und dich selbst, und mit Freuden wirst du seinen Namen tragen. Dazu verleihe dir seine Gnade Gott, der Vater aller; denn auch ihm wirst du mit solcher liebevollen Gesinnung Ehre erweisen, wenn du nämlich Mitleid hast mit unserem Vater und bedenkest, was er durch den Verlust seiner Kinder leiden würde. Bei dir steht es daher, uns das Leben, das Gott uns gegeben hat, und das du uns jetzt nehmen kannst, wiederum zu schenken und so an Güte sein Ebenbild zu werden, so viel du das vermagst. Schön ist es, eine so große Macht zu anderer Nutzen und nicht zu ihrem Schaden zu gebrauchen und, wenn man andere verderben kann und das Recht dazu hat, dieses nicht auszuüben, gleich als wäre es nicht vorhanden, sondern seine Gewalt nur zum Heile anderer zu verwenden. Und je mehr Menschen man beglückt, desto größeren Ruhm erwirbt man sich selbst. Du kannst uns jetzt alle retten, wenn du unserem Bruder verzeihst, was er gegen dich gefrevelt. Denn auch uns wird es nicht mehr möglich sein zu leben, wenn er die Todesstrafe erleidet, da wir ohne ihn nicht zum Vater zurückkehren dürfen. Darum verhänge über uns dieselbe Strafe, gleich als ob wir Genossen seines Verbrechens wären; denn wir wollen dasselbe Schicksal erleiden, das unserem Bruder bevorsteht. Es ist uns lieber, mit ihm verurteilt zu werden und zu sterben, als dass wir nach seinem Tode uns in Trauer aufreiben. Ich will nicht davon reden, dass er noch jung und sein Verstand noch nicht ausgebildet und dass es deshalb nach menschlicher Sitte schicklich ist, ihm eher Verzeihung zu gewähren. Vielmehr will ich das alles deiner Beurteilung anheim stellen und zum Schluss meiner Rede kommen, damit, wenn du uns verurteilst, es meine eigene Schuld sei, dass ich nicht alles gesagt habe, was deinen Zorn gegen uns mildern könnte, dass hingegen, wenn du uns lossprichst, du das Bewusstsein habest, dies in deiner Güte und Milde getan zu haben. Denn dann schenkst du uns nicht nur das Leben, sondern erweisest uns auch die Gnade, uns für besser zu halten, als wir sind, und bist mehr auf unser Wohl bedacht als wir selbst. Hast du also beschlossen, ihn zu töten, so lass mich für ihn die Todesstrafe erleiden und sende ihn dem Vater zu. Willst du ihn aber lieber der Knechtschaft überantworten, so bin ich selbst noch tauglicher als er zu deinem Dienste. Zu beiden Strafen bin ich, wie du siehst, geeignet und bereit.« Hierauf warf sich Judas, der freudigen Herzens für das Wohlergehen seines Bruders leiden wollte, Joseph zu Füßen und versuchte so, dessen Zorn zu besänftigen und zu beschwichtigen. Ebenso taten auch die anderen Brüder und erboten sich unter Tränen, für Benjamin zu sterben.
9. Joseph aber wurde von Mitleid überwältigt und konnte sich nicht länger zornig stellen. Und er befahl den Anwesenden, sich zu entfernen, damit er ohne Zeugen sich seinen Brüdern zu erkennen geben könne. Als nun alle sich zurückgezogen hatten, gab er sich seinen Brüdern zu erkennen und sprach: »Eure liebevolle Gesinnung gegen unseren Bruder muss ich loben, und ich sehe, dass ihr doch ein besseres Gemüt habt, als ich nach dem erwarten konnte, was ihr einst gegen mich ins Werk gesetzt habt. Denn ich habe alles, was ihr hier an euch erfahren habt, nur deshalb angeordnet, um eure brüderliche Liebe auf die Probe zu stellen. Ich glaube auch, dass ihr von Natur nicht bösartig gegen mich gesinnt waret, sondern ich schreibe alles dem Willen Gottes zu, der uns den Genuss der gegenwärtigen Güter gestattet und den der zukünftigen nicht vorenthalten wird, wenn er fortfährt, uns gnädig zu sein. Da ich nun auch erfahren habe, dass der Vater gegen meine Erwartung noch wohlbehalten ist, und dass ihr euren Bruder so sehr liebt, so will ich weiterhin dessen, was ihr an mir gesündigt, nicht mehr gedenken. Auch will ich euch deswegen keinen Hass nachtragen, vielmehr euch Dank abstatten, weil ihr mit mir die Ursache gewesen seid, dass Gott so gnädig für uns sorgte. Und so wünsche ich, dass auch ihr das Geschehene vergesst. Freut euch, dass eure damaligen bösen Anschläge zum Guten gediehen sind, und betrübt euch nicht darüber, dass ihr etwas getan, dessen ihr euch schämen müsst. Auch lasst es euch nicht schmerzen, dass ihr so übel mit mir verfahren seid, da eure Absicht ja nicht verwirklicht worden ist. Freut euch vielmehr, dass Gott es so gelenkt hat, und nun zieht hin und verkündet es dem Vater, damit er nicht länger von Sorge um euch gequält werde und er so vielleicht eher sterbe, als ich ihn wieder gesehen und ihn zum Teilhaber aller dieser meiner Güter gemacht habe. Nehmt also den Vater, eure Weiber und Kinder und eure ganze Verwandtschaft und wandert hierher. Denn es ziemt sich nicht, dass die, die mir die liebsten sind, sich an meinem Glücke nicht erfreuen sollten, zumal da die Hungersnot noch fünf Jahre anhalten wird.« Nach diesen Worten umarmte Joseph seine Brüder. Diese aber brachen in Tränen und Klagen aus, indem sie des Bösen gedachten, das sie gegen ihn verübt; denn sie hatten noch immer Angst, hinter dem freundlichen Gebaren ihres Bruders möchte sich die verdiente Strafe verbergen. Darauf wurde ein Mahl hergerichtet. Und auch der König freute sich über die Ankunft der Brüder Josephs gar sehr, und er stellte sich an, als ob ihm selbst etwas Gutes zuteil geworden sei. Dann schenkte er ihnen Wagen, mit Getreide hoch beladen, und Gold und Silber für ihren Vater. Und nachdem sie auch von Joseph noch viele Geschenke, teils für ihren Vater, teils für sich, am meisten aber für Benjamin erhalten