Die Taube auf der Moschee. Marmaduke William Pickthall
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Читать онлайн книгу Die Taube auf der Moschee - Marmaduke William Pickthall страница 10
Er wandte sich an seine Frau und fragte, was los sei.
Sie stöhnte: ›Ich kann es nicht sagen. Frag die arme Nesîbeh!‹
Dann wandte er sich an seine älteste Tochter, die von Schluchzern halb erstickt erklärte: ›Ich bin schon ein großes Mädchen.‹
›Das stimmt, o meine Tochter!‹
›In ein, zwei Jahren wird meine Mutter einen Mann für mich finden.‹
›Das ist möglich.‹
›Im Jahr darauf habe ich einen kleinen Sohn.‹
›In sh’Allah!‹, sagte ihr Vater fromm.
›Ein, zwei Jahre später läuft mein Sohn herum. Sein Vater fertigt für ihn ein Paar roter Schühchen. Er kommt zu dieser Quelle, um mit den anderen Kindern zu spielen. Und von diesem vorragenden Ast – wie soll ich es erklären? – fällt er herunter und bricht sich das Genick.‹ Nesîbeh verbarg erneut ihr Gesicht und jammerte laut.
Dem Dorfpriester brach das Herz, als er die schreckliche Nachricht vernahm, er riss seine Soutane von unten bis zur Taille entzwei, warf die Enden über sein Gesicht und rief: ›Ach, mein kleiner Enkel! Mein lieber, kleiner Enkel! Oh, wenn du gelebt hättest, um mich zu begraben, mein kleiner Enkel!‹ Und auch er sank von Trauer erfüllt zu Boden.
Dem Fremden wurde es schließlich zu mühsam, die Maulbeerbaumblätter abzureißen und sie die Stufen hinauf zu dem angebundenen Schaf zu bringen. Er merkte, dass er wegen der Anstrengung noch durstiger geworden war.«
»Hat er das wirklich getan, obwohl niemand zuschaute?«, fragte Rashîd. »Er muss ebenso dumm gewesen sein wie alle anderen.«
»Das war er, aber auf andere Art«, sagte Suleymân. »Er ging zur Quelle und sah die Versammlung unter dem Birnbaum, die heulte wie die Sünder am Jüngsten Tag. Mittendrin saß der Dorfpriester, der sein Gesicht in den Fetzen seines schwarzen Rocks barg. Der Fremde wagte es, sich dem Mann zu nähern und ihn zu fragen, was los sei. Der Priester zeigte kurz sein Gesicht und wollte sprechen, doch die Erinnerung an seinen Kummer überwältigte ihn. Er verbarg sein Gesicht erneut und jammerte: ›Ach, mein kleiner Enkel! Mein hübscher, kleiner Enkel! Oh, wenn du gelebt hättest, um mich zu begraben, mein kleiner Enkel!‹
Eine Frau, die in der Nähe saß, zupfte dem Fremden am Ärmel und sagte: ›Seht das Mädchen dort. Bald ist sie erwachsen. In ein, zwei Jahren ist sie sicher verheiratet. Ein Jahr später hat sie einen kleinen Sohn. Der Kleine ist bald groß genug, um herumzulaufen. Sein Vater macht ihm ein Paar roter Schühchen. Er kommt zur Quelle, um mit den anderen Kindern zu spielen. Seht Ihr den Birnbaum? An einem Tag wie diesem – einem schönen Nachmittag – klettert er hoch, und von dem Ast, der über die Quelle hinausragt, fällt er hinunter und bricht sich sein kleines Genick auf diesen Steinen. Ach, unser kleiner Nachbar. Ach, hättest du gelebt, um uns zu begraben, mein kleiner Nachbar!‹ Und alle begannen erneut, sich zu wiegen und zu jammern.
Der Fremde stand da und starrte sie eine Weile an. Dann schrie er ›Tfû’aleykum!‹2 und spukte auf den Boden. Er würdigte sie keines weiteren Wortes, sondern ging fort und wanderte immer weiter, bis er sein Heimatdorf erreichte. Dort setzte er sich auf seinen uralten Stuhl und sagte zu seiner Frau: ›Sei nicht traurig, o Geliebte! Ich habe eine Grässlichere gefunden.‹«
Suleymân erklärte die Geschichte für beendet.
»Was ist die Moral?«, fragte Suleymân.
»Das erklärt sich von selbst«, antwortete der Geschichtenerzähler. »Es ist diese: Ganz gleich, wie schlimm die eigene Frau auch sein mag, man kann immer eine schlimmere finden.«
»Man kann auch eine bessere finden«, schlug ich vor.
»Verlasst Euch nicht darauf!«, sagte Suleymân. »Auf der Welt gibt es drei Arten von Frauen, die allesamt behaupten, von unserem Vater Noah abzustammen. Doch die Wahrheit ist: Unser Vater Noah hatte nur eine Tochter, und drei Männer begehrten sie. Um die anderen zwei nicht zu enttäuschen, verwandelte er seinen Esel und seinen Hund in zwei Mädchen, die er den Freiern anbot – deswegen hat man es heute mit drei Arten von Frauen zu tun. Die echten Nachkommen unseres Vaters Noah sind sehr selten.«
»Wie kann man sie von den anderen unterscheiden?«, fragte ich.
»Nur durch eines: Sie behalten Euer Geheimnis für sich. Die zweite Art Frau verrät Euer Geheimnis an eine Freundin, die dritte wird es gegen Euch verwenden. Und dies tun sie instinktiv, so wie Hunde bellen und Esel schreien, ohne böse Absicht oder Hintergedanken.
Derselbe Dorfpriester der Maroniten, von dem ich gerade erzählt habe, wurde in den ersten Tagen seiner Ehe von seiner Lebensgefährtin gepeinigt, ihr die Geheimnisse anzuvertrauen, die ihm die Leute beichteten. Er weigerte sich und behauptete, sie würde sie preisgeben.
›Nein, ich kann ein Geheimnis für mich behalten, wenn ich es geschworen habe. Stell mich auf die Probe!‹, antwortete sie.
›Na, das wollen wir mal sehen‹, sagte der Dorfpriester in einem neckenden Tonfall.
Eines Tages, als er zu Hause auf dem Sofa lag, begann der Priester zu stöhnen und sich zu winden, als litte er starke Schmerzen. Seine Frau fragte ihn entsetzt, was ihm fehle.
›Es ist ein Geheimnis‹, erwiderte er, ›das ich dir nicht anzuvertrauen wage, denn mein Wohlergehen auf Erden und mein Seelenheil hängen davon ab.‹
›Ich schwöre bei Allah, es für mich zu behalten. Erzähl’s mir!‹, drängte sie.
›Nun‹, antwortete er wie unter Höllenqualen, ›ich riskiere mein Leben und vertraue dir. Wisse, dass du Zeugin des größten Wunders bist. Obwohl ich keine Frau bin, werde ich bald ein Kind gebären – etwas, was auf Erden bis heute noch nie geschehen ist –, und in dieser Stunde soll ich mein Erstgeborenes zur Welt bringen.‹
Dann steckte er mit einem furchtbaren Schrei die Hände unter seinen Rock und zeigte seiner Frau einen kleinen Vogel, den er dort versteckt hatte. Er ließ ihn durch das Fenster davonfliegen. Nachdem der Vogel verschwunden war, sagte der Priester fromm: ›Gelobt sei Allah! Das ist vorbei! Du hast mein Kind gesehen. Dies ist ein heiliges und schreckliches Geheimnis. Behalte es für dich oder wir müssen alle sterben!‹
›Ich schwöre, dass ich es geheimhalte‹, erwiderte sie inbrünstig.
Doch das Wunder, dessen Zeugin sie gewesen war, ließ ihr keine Ruhe. Sie musste darüber sprechen oder sterben. Also besuchte sie eine Freundin, auf deren Klugheit sie sich verlassen konnte, ließ sie schwören, Stillschweigen zu bewahren, und erzählte ihr die Geschichte.
Diese Frau hatte ebenfalls eine vertrauenswürdige Freundin, der sie unter Eid, alles für sich zu behalten, die Geschichte erzählte, und so ging es weiter, mit dem Ergebnis, dass am selben Abend eine Delegation der Dorfältesten den Priester aufsuchte und ihn im Namen der Gemeinde bat, die Füße seines geheimnisvollen Sohnes küssen zu dürfen – jenes kleinen regenbogenfarbenen Vogels, der ein Horn auf dem Kopf trage und Flöte spiele.
Der Dorfpriester sagte nichts zu seiner Frau. Er schlug sie nicht. Er warf ihr nur einen Blick zu. Und doch peinigte sie ihn von diesem Tage an nie wieder und blieb demütig.«
»Der Priester war zu diesem Anlass sehr weise,