Great Green Thinking. Jennifer Hauwehde

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Great Green Thinking - Jennifer Hauwehde

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internalisierte ich trotzdem – und gab sie unreflektiert weiter: Im Maß liegt die Tugend, less is more, nachhaltiges Leben ist einfach und günstig, und wenn dir das nicht so vorkommt, willst du es einfach nicht stark genug. Die Angebote sind da, du musst dich nur richtig informieren – und dann konsequente Entscheidungen treffen, die schmerzhaft sein können (und sollen). Ich entwickelte eine Abneigung gegen Menschen, die bei Primark einkauften, Billiglebensmittel beim Discounter in den Einkaufskorb luden oder ihre Wohnung mit – aus meiner neu erlernten Perspektive – nutzlosem Krimskrams vollstellten. Und fühlte mich gut und besser, weil ich entsagte. Ich hatte erfolgreich eine neue Ebene des Klassismus erklommen.

      KLASSISMUS

      Diskriminierung oder Vorurteile gegenüber einer Person oder Personen aufgrund einer [vermuteten] Zugehörigkeit zu oder Herkunft aus einer bestimmten [niedrigeren] sozialen Klasse.21

      Dabei verdrängte ich eine unbequeme Wahrheit: Sofort als ein bisschen mehr Geld da war, verfiel ich in einen Konsumrausch. Ich wollte alles, was ich mir vorher nicht leisten konnte: viele Kleider, mit denen ich nicht mehr auffiel, eine Einrichtung, die nichts vermissen ließ, viel Kosmetik und generellen Überfluss – weil ich es jetzt zum ersten Mal in einem (immer noch vergleichsweise bescheidenen) Rahmen konnte. Ich verschwendete keinen einzigen Gedanken an Ressourcen, unfaire Produktionsbedingungen und die Zukunft meiner potenziellen Kinder.

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      Eine Zeit lang schämte ich mich rückblickend für diesen kurzfristigen Exzess – mittlerweile habe ich begriffen, dass das Gefühl der Scham gewollt und das Ergebnis einer sehr effizienten Verantwortungsverlagerung ist: Das eigentliche Problem war nicht ich als Einzelperson, die verzweifelt versuchte, den gesellschaftlich erwarteten und doch selten erreichten Lebensstil einer gehobenen Mittelklasse zu leben und dadurch gesehen zu werden. Das Problem ist zum einen ebenjene gesellschaftliche Definition des guten Lebens im globalen Norden, die im Wesentlichen auf unbegrenztem Konsum materieller wie immaterieller Dinge beruht.

      Zum anderen ist eine würdevolle Teilhabe an der Gesellschaft längst nicht für alle Menschen möglich. Zwar ist die Einkommensungleichheit in den vergangenen Jahren etwas zurückgegangen – was unter anderem mit der Anhebung des Mindestlohns zusammenhängt.22 Die Vermögensungleichheit hingegen steigt kontinuierlich – immer mehr Vermögen konzentriert sich auf immer weniger Menschen.23 Und auch der Mindestlohn reicht angesichts steigender Mieten und Lebenshaltungskosten längst nicht immer zum Leben, höchstens zum Überleben: Wer Vollzeit auf Mindestlohnbasis arbeitet, erhält am Ende des Monats 1.621 Euro24 – nicht genug, um als alleinerziehende Person über die Runden zu kommen. Im Mai 2020 stockten rund 113.000 Menschen, die in Vollzeit arbeiteten, ihren Lohn durch Hartz IV auf.25 Gleichzeitig wird immer noch das Narrativ hochgehalten, das Wirtschaftswachstum sei ausschließlich vom Konsum der Bevölkerung abhängig. Der individuelle Konsum gilt als »patriotische Aufgabe«.26

      ZUR ERINNERUNG

      Ein Prozent der Erwachsenen in Deutschland besitzen rund 35 Prozent des Gesamtvermögens, weitere neun Prozent besitzen weitere 32 Prozent. Die »oberen zehn Prozent« vereinen also 67 Prozent des Vermögens auf sich. Und die restlichen 90 Prozent der Bevölkerung besitzen gemeinsam gerade einmal 33 Prozent des Gesamtvermögens.27

      Scham und Wut gegen mich selbst zu richten ist nur bedingt angebracht und konstruktiv, dafür allerdings gewollt, weil systemerhaltend (wir gehen darauf in Kapitel 3 genauer ein). Um diesen Aspekt – den viele Texte, die Nachhaltigkeit als Schwerpunktthema setzen, leider nicht oder nur sehr oberflächlich behandeln – auf den Punkt zu bringen: Nachhaltigkeit muss man sich leisten können.

      FINANZIELL

      Natürlich spart man durch wenige Neukäufe und bedachtes Auswählen hochwertiger Produkte langfristig. Doch die zunächst höhere Anfangsinvestition muss erst einmal möglich sein – und bei etwas Basalem wie Lebensmitteln oder einem dringend notwendigem Kleiderkauf ist monatelanges Sparen mitunter schlicht eine utopische Idealvorstellung.28

      PER HABITUS

      Secondhand ist fancy und unmittelbar mit einem leichten Gefühl des Weltrettens verbunden – aber nur für jene, die sich bewusst dafür entscheiden können, für Vintagekleidung mehr Geld als für Neuware auszugeben. Für diejenigen, für die Secondhand zeit ihres Lebens keine Crème-Ware-Auswahl, sondern das Günstigste vom Günstigen bedeutet, die Vintageschätze nicht mit neuen Key Pieces kombinieren können und nicht die Zeit haben, zehn Preloved-Stores nach Kleidung abzugrasen, die ihnen gefällt, ist diese von der Mittelklasse neu entdeckte Alternative mitunter vor allem eines: würdelos.

      MENTAL

      Für Menschen, die täglich Stigmatisierungen, Diskriminierungen und/oder offenen Anfeindungen aufgrund von nach wie vor omnipräsentem Rassismus/Ableismus29/ Sexismus/Antisemitismus/Klassismus und anderem -ismus ausgesetzt sind, stellt sich am Ende des Tages vor allem die Frage nach dem Erhalt des eigenen psychischen Wohlergehens. Nicht immer bleibt Kraft für intensive Recherche von (komplexen) nachhaltigen Kaufentscheidungen.

      ZEITLICH

      Wie viel Zeit haben Menschen, die ganztägig in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, womöglich mehrere Jobs gleichzeitig stemmen müssen und in der wenigen freien Zeit unbezahlter Care-Arbeit (Sorge- und Pflegearbeit wie Kinderbetreuung, Pflege von älteren Angehörigen, Arbeiten im Haushalt) nachgehen, um unterschiedliche nachhaltige Produktvarianten gegeneinander abzuwägen? Wie viel Zeit, auf den Markt zu gehen, frisch einzukaufen und ein Abendessen für die ganze Familie zu kochen?

      PER VERFÜGBARKEIT

      Für die konsequente Umsetzung eines nachhaltigen Lebensstils kann es eine große Rolle spielen, ob jemand zentral in einer Großstadt wohnt, den Unverpacktladen, einen Secondhandladen und Fair-Fashion-Geschäfte um die Ecke sowie Zugang zu Flohmärkten, öffentlichen Verkehrsmitteln und schnellem Internet für die Informationsbeschaffung hat – oder auf dem Land auf ein Auto angewiesen ist, es in der Umgebung nur einen Supermarkt mit begrenztem nachhaltigem Angebot gibt, Transportwege daher lang und umständlich sind.30

      Wenn ich davon spreche, dass man sich Nachhaltigkeit leisten können muss, meine ich damit jene Form von Nachhaltigkeit, die den freien und regelmäßigen Konsum grüner und fairer Alternativprodukte genauso einschließt wie die gewählte und bewusste Form des reduktiven Verzichts. Dieser Lebensstil – deren Vertreter:innen seit ein paar Jahren mit dem Kürzel LOHAS31 bezeichnet werden – ist eine privilegierte Entscheidung, die vor allem vor dem Hintergrund getroffen werden kann, das Zuviel bereits zu kennen und ausgeschöpft zu haben. Jedes Privileg basiert auf Macht und trägt durch sein Ausleben wiederum dazu bei, dass Macht verfestigt wird.

      WER IST ARM?

      In Deutschland gilt als arm, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) zur Verfügung hat. Für eine allein lebende Person be-deutete das im Jahr 2019 ein Leben mit weniger als 1.074 Euro im Monat.32 Armut und Arbeitslosigkeit gehen sehr oft Hand in Hand: 2019 lag die Armutsgefährdungsquote bei Arbeitslosen bei fast 57,9 Prozent – wohingegen sie bei Erwerbstätigen bei ungefähr acht Prozent lag.33 Unterschieden von armen werden außerdem materiell deprivierte Menschen. Materiell depriviert bedeutet, sich grundlegende Güter und Aktivitäten des alltäglichen Lebens

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