Der Televisionär. Группа авторов
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2 Zur Geschichte audiovisueller Authentizität: Malerei, Theater, Fotografie, Film
Vorindustriell existierte bekanntlich keine qua Medium – durch das Objektiv, das Aufzeichnungsverfahren – garantierte visuelle oder audiovisuelle Authentizität. Auditives Geschehen ließ sich allenfalls in Mitschrift oder Notation bezeugen, visuelles lediglich nachschöpfen. Insofern (audio-) visuelle Indexikalität – die unmittelbare Referenz auf tatsächliche Ereignisse – den vorindustriellen Medien kategorial verschlossen war, mischten sich in der Bildenden Kunst wie auf dem Theater, im Porträt oder Schlachtengemälde, im historischen oder naturalistischen Schauspiel, immer Elemente des Gefundenen und Erfundenen, des Bezeugten und Nachempfundenen. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden semi-automatische Verfahren zur Aufzeichnung von Bild und Ton durch Realitätsabdruck und damit die Möglichkeit zu einer von menschlicher Manipulation – potentiell oder scheinbar – freien, primär reproduzierenden Speicherung. Der neue Handlungsraum für Information und Ausdruck, der sich technisch eröffnete, musste freilich in der Nutzung erst ästhetisch realisiert werden. So wurde anfänglich gerade das, was die Stärke der Fotografie ausmachte – dass sie als »Lichtmalerei« frei von Eingriffen menschlicher Hand Realitätsspuren dauerhaft zu bewahren vermochte, ihr Fotorealismus also –, als eine künstlerische Schwäche empfunden. Ihr suchten die Zeitgenossen bekanntlich durch händisch-malerische Überarbeitung von Negativ wie Positiv abzuhelfen. Ebenso waren in dieser Frühzeit – auch auf Grund der langen Belichtungszeiten – nahezu alle ›dokumentarischen‹ Fotos (nach-) gestellt.
Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert und bereits im Zeitalter des Films, der die fotografischen Bilder mechanisch zum Laufen brachte, entwickelte die Fotografie ihre eigene Ästhetik, indem sie die Authentizität dessen, was die Kamera einfing, über die Interessen subjektiven Ausdrucks seitens des Fotografen stellte. Das Dokumentarische, das sich mit der Technik des Realitätsabdrucks verband, erschien nun nicht länger als Schwäche, sondern als einzigartige mediale Stärke. Sie galt es fortan technisch zu verbessern und in der künstlerischen Praxis auszuspielen. Nach 1900 entstanden so etwa – durch die Einführung immer leichterer und schnellerer Kameras sowie lichtempfindlicheren Filmmaterials – neue ästhetische Praktiken wie die Schnappschussfotografie und die Straßenfotografie. Kulturell etablierte sich damit eine zuvor unbekannte kategoriale Differenz zwischen faktischer Aufzeichnung und Dokumentation einerseits und fiktionaler Imitation und Inszenierung andererseits. Diese Trennung von Fakt und Fiktion, wie sie zuerst in der Praxis und der theoretischen Reflexion der Fotografie zum Tragen kam, war eine epochale kulturelle Leistung und bedeutete medienhistorisch eine Zäsur.
In seinem ersten Vierteljahrhundert vollzog der Film diesen Prozess nach. Zunächst schienen Post-festum-Inszenierungen beziehungsweise ›Rekonstruktionen‹ historischer Ereignisse – etwa L’Affaire Dreyfus14 oder L’Assassinat de McKinley15 – Filmemachern wie Publikum als Mittel der ›Berichterstattung‹ durchaus so akzeptabel, wie sie es auf dem Theater immer gewesen waren. Nach 1910 setzte sich aber die Ansicht durch, dass eine deutliche Scheidung wie der stehenden auch der laufenden Bilder nach Dokumentation und Inszenierung notwendig sei. 1922 veröffentlichte Dziga Vertov ein einflussreiches Plädoyer für dokumentarische Darstellungsformen.16 Im selben Jahr entstand mit Nanook of the North17 der erste abendfüllende Dokumentarfilm. Der Begriff selbst freilich existierte noch nicht. Ihn – documentary – sollte John Grierson erst vier Jahre später in der Rezension eines weiteren Flaherty Films prägen.18 Analog zur Ausdifferenzierung von gestaltender Fotokunst und dokumentierender (Presse-, Sport-, Sozial-, Kriegs-) Fotografie unterschied auch das Kino nun klar zwischen Spielfilmen und den diversen Varianten des – möglichst – Nicht-Inszenierten, vom künstlerischen Dokumentarfilm bis hin zur kunstlos berichterstattenden Wochenschau.19
Dabei formte sich um die Vorstellung von der Foto- und Filmkamera und ihrer Objektive als ›objektiver‹ oder zumindest ›objektivierender‹ künstlerischer Mittel ein Ideal des Dokumentarischen, das die Kultur in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen weit über Fotografie und Film hinaus prägen sollte; insbesondere in der Bildenden Kunst, Architektur und Literatur der Neuen Sachlichkeit, die englisch denn auch New Objectivity hieß. Anders als die Fotografie vermochte der Film jedoch diesen Idealen kaum zu entsprechen. Denn die angestrebte Dokumentation des Wirklichen erforderte technische Bedingungen, u. a. eine entsprechende Beweglichkeit und Unauffälligkeit der Kamera und eine ausreichende Lichtempfindlichkeit des Materials. Diese Voraussetzungen waren in den 1920er und 1930er Jahren keineswegs gegeben; im Gegenteil, mit der Einführung des Tonfilms um 1930 und der daraus resultierenden Notwendigkeit, nun auch Originalton aufzunehmen, verschlechterten sich die Voraussetzungen für nicht-inszenierte Dokumentationen noch einmal. Nachinszenierungen waren entgegen allen Idealen des Dokumentarischen daher bis in die 1960er Jahre die Regel.
Im Rückblick erweisen sich damit der Dokumentarfilm beziehungsweise die Erfahrung des Dokumentarischen in der Zwischenkriegszeit wie auch in späteren Perioden weniger an die Aufzeichnung von Inhalten und mehr an die Formen dieser Aufzeichnung und ihrer Bearbeitung gebunden. Es liegt nahe, diese Formen als Kompromissleistungen zwischen inhaltlichen Interessen, ästhetischem Formwillen und medientechnischen Möglichkeiten zu verstehen. Sobald sich aber spezifisch dokumentarische Formen – etwa der Kameraarbeit, des Schnitts oder der Narration – ausgebildet hatten, begannen sie unabhängig von den Bedingungen zu existieren, denen sie sich schuldeten. Sie wurden in der Rezeption klar erkennbar und in der künstlerischen Arbeit arbiträr verwendbar. Von daher lässt sich das, was wir zu Zeiten unter dokumentarisch verstehen, auch innerhalb anderer – fiktionaler – Kontexte simulieren. Einerseits richtete sich so die kulturelle Sehnsucht, das Common-Sense-Verlangen nach Authentizität spätestens seit der Nachkriegszeit, in der Wolfgang Menge seine Karriere als Film- und Fernsehautor begann, und bis in die Gegenwart hinein auf die Überwindung von Medialität, auf den unmittelbaren Zugriff auf das Reale – auf ein Mit-sich-selbst-identisch-Sein. Andererseits sehen wir in der kulturellen Rezeption medialer Artefakte kursierende »Authentizitätserwartungen« an spezifische Medien und deren formale Gestaltung gebunden, also an ästhetische Formen, und kaum an Referenzen oder Indexikalität, also nicht an das Verhältnis zu dem, was wir für Realität halten.20
Die dem Publikum bald vertraute Trennung von spielerischen und dokumentarischen Formen bereitete allerdings den Boden für einen nächsten Schritt. Denn sie setzte wie jede Unterscheidung das Potenzial zu einer wie immer gearteten Kombination: für ästhetische Experimente, die mit den neuen medial-ästhetischen Kodes des Faktischen und Fiktionalen spielten und in diesem experimentellen Prozess das Kodifizierte hybridisierten. Zur Ausbildung solch faktionaler Formen kam es, bevor sie im Fernsehen der sechziger und siebziger Jahre Bedeutung gewannen, bereits im Stumm- und Tonfilm.
3 Faktionen vor dem Fernsehen: Stummfilm, Radio, Tonfilm
Walter Ruttmanns dokumentarisches Meisterwerk Berlin – Die Sinfonie der Grossstadt21 lief 1927 in den Kinos. Kaum drei Jahre später, als Wolfgang Menge gerade eingeschult wurde, drehten fünf junge Filmer – Robert und Curt Siodmak, Billy Wilder, Edgar Ulmer und Fred Zinneman –mit Menschen am Sonntag ein nicht minder meisterliches faktionales Gegenstück.22 Mit Laien-Schauspielern im Stil des Alltäglichen inszenierte Ereignisse fingen sie in dokumentarischer Form ein. Der ästhetische Effekt war eine Authentifizierung des Fiktiven. Erfundenes glich Gefundenem. Die ausgedachten Geschichten gewannen mittels dokumentarischer Anmutung die Aussagekraft, welche wirklichen und zugleich typischen Schicksalen eignet.
Dieser Semi-Dokumentarismus sollte stilprägend werden, nicht so sehr für den deutschen Film, aber – als Folge des Exodus, der Zehntausende