Der Televisionär. Группа авторов
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Nachdem der ermittelnde Beamte, weil er eben gerade keine Unterschiede zwischen jüdischen und nicht-jüdischen ›Mitbürgern‹ machen will, den Arzt doch verhaftet, stellt sich freilich dessen Unschuld heraus – und dass die Tote auf Drängen ihrer Eltern und mit deren Hilfe abgetrieben hat, weil es sich bei dem Kindsvater um einen von den Eltern verachteten italienischen ›Gastarbeiter‹ handelte. Einmal mehr »erweist sich die vielfältig und immer wieder mit Nachdruck inszenierte Behauptung, Xenophobie überwunden zu haben, gerade als Ausdruck von deren Fortdauern.«67
Dieser als Kriminalfall inszenierten Darstellung eines Rassismus, der in der vermeintlich aufgeklärten bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft mehr oder weniger subkutan fortdauerte, ließen Wolfgang Menge und die Fernsehspielredaktion des WDR ein weiteres Fernsehspiel folgen, das Fragen und Lehren aus der nationalsozialistischen Vergangenheit evozierte, ohne direkt von ihr zu handeln. Fragestunde68 thematisierte die Zerstörung einer Demokratie durch eine gewaltsame Machtübernahme und schilderte das ebenso feige wie skandalöse Verhalten der bundesdeutschen Politik gegenüber einem solchen Fall. Den historischen Anlass bot 1967 der Putsch der griechischen Obristen. Nicht um Griechenland, das in Menges Drehbuch Attika heißt, ging es allerdings, sondern um Deutschland. Nicht um die Geschehnisse in Athen beziehungsweise in Attikas fiktiver Hauptstadt Argos, sondern um die politischen Mechanismen in der westdeutschen Hauptstadt Bonn.
Fragestunde, die erste Kooperation von Wolfgang Menge mit dem Regisseur Tom Toelle, markierte zugleich auch den Beginn seiner Infragestellung der tradierten Form des – ob kriminalistischen oder politischen – Fernsehspiels als Mittel authentischer Darstellung und Aufklärung. Nicht zuletzt über eine semi-dokumentarische Kameraführung, die im Stil des zeitgenössischen Direct Cinema dem Hauptprotagonisten beständig über die Schultern sieht, werden die sozialen Mechanismen politischer Anpassung in der Bonner Demokratie erfasst. Die Handlung beginnt mit der Landung des Bundestagsabgeordneten Hirthe auf dem Flughafen Köln-Bonn. Freilich braucht es Zeit, bis der Zuschauer das realisiert, denn es gibt keinen üblichen establishing shot, keine Totale, die den Ort der Handlung zeigen würde. Die Kamera bleibt dicht an Hirthes Gesicht und folgt ihm so beim Ausstieg aus dem Flugzeug und auf seinem Weg durch den Flughafen, bis Hirthe schließlich in den Bus nach Bonn steigt und der Vorspann nun über einer Totale auf Flughafen und Bus einsetzt. [Abb. 11]
Gleich die nächste Sequenz, eine der wohl elegantesten, die das deutsche Fernsehspiel jener Jahre produzierte, entwickelt dann ein zentrales Motiv der Fragestunde: die dominierende Rolle der Medien und vor allem des Fernsehens selbst in der öffentlichen Kommunikation und insbesondere für die Prozesse der politischen Entscheidungsfindung und Herrschaft in der Bonner Republik. Aus dem Ambiente eines bekannten Polit-Magazins – Report Baden-Baden, moderiert von dem zeitgenössisch prominenten Journalisten Günter Gaus69 – fährt die Kamera hinter die Kulissen, an den Kameras vorbei, in deren Suchern sich die Studioszene verdoppelt, und über die Galerie von Bildschirmen und Übertragungsbildern in der Schaltzentrale des Senders. Von dort gelangen wir – die Kamera –, vermittelt über einen weiteren Blick auf den Sucher einer TV-Kamera, in ein anderes Studio. In ihm wird der Bundestagsabgeordnete Hirthe interviewt: Als Urlauber hat er die Brutalitäten des Militärputsches in Argos persönlich erlebt. Während die Kamera seinen Gesprächspartner zeigt, sehen wir über dessen Schultern von Hirthe lediglich sein Bildschirmdoppel. Die fortlaufende Tonspur versetzt uns dann in die Wohnung des Abgeordneten. Gerade tritt er aus dem Bad und vor den Fernseher, um nun – da die Reihe medialer Spiegelungen den Helden selbst erfasst hat – den eigenen TV-Auftritt zu verfolgen. [Abb. 12]
Eingangs wird so zugleich der Semi-Dokumentarismus der Handlung, ihre Faktennähe, wie auch ihre Vermittlung in einem Fernsehformat etabliert, der Umstand also ihrer medialen Gebrochenheit. Der große Rest des Fernsehspiels entfaltet sich danach in Szenen eines vermeintlich uninszenierten Alltags, eingefangen von einer den Helden begleitenden Kamera, wie sie erst zwei Jahrzehnte später im Reality-TV üblich werden sollten.70 Diese noch vergleichsweise vorsichtige Infragestellung der im Fernsehspiel der sechziger Jahre etablierten und teils vom Theater, teils vom Film stammenden Erzählformen sollte Wolfgang Menge in den nächsten Arbeiten für den WDR radikal dekonstruieren – indem er auf neue, spezifisch televisionäre Formate rekurrierte.
Formal lassen sich allenfalls noch zwei weitere Fernsehfilme als Fortsetzung dessen betrachten, was die Arbeiten der fünfziger und sechziger Jahre bestimmt hatte: Der Mann von gestern über die Konsequenzen des wachsenden Einflusses der politischen Parteien auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die Korruption eines Ministerpräsidenten im Kontext der Atom-Industrie71 sowie Kennwort Möwe über eine Flugzeugentführung und das Versagen der politischen Führung.72 Von diesen Ausnahmen abgesehen aber sollten Wolfgang Menge in den siebziger und achtziger Jahren andere televisionäre Formen beschäftigen – und ihn in der Konsequenz zum erfolgreichsten und bekanntesten deutschen Fernsehautor aufsteigen lassen.
1 In Deutschland gab es zwar schon frühere Fernübertragungen von laufenden Bildern, bis 1934 blieben sie jedoch ohne Ton.
2 Vgl. Chandler, Alfred Dupont/Hikino, Takashi/Von Nordenflycht, Andrew: Inventing the Electronic Century: The Epic Story of the Consumer Electronics and Computer Industries, New York: Free Press 2001, S. 27.
3 Abgesehen von dem Rekurs auf das ältere Medium Film, d.h. das Abfilmen des TV-Schirms mittels Filmkameras. Der erste Videotape-Rekorder kam 1956 auf den Markt. In seinem ersten Jahrzehnt war das Fernsehen daher ein reines Live-Medium. In Echtzeit übertragen wurden nicht nur Sportereignisse oder Nachrichtensendungen, sondern ebenso Seifenopern und Werbeeinblendungen. Von der Ausstrahlung von Zelluloidkonserven abgesehen, konnte die Television einzig zeigen, was gerade irgendwo tatsächlich vor einer Kamera geschah.
4 Feedback konnte allerdings über andere ›remedial‹ Medien gegeben werden, etwa den Brief und vor allem das Telefon.
5 N. N.: »Mehr als 3,4 Fernseh- und fast 16 Millionen Hörfunkteilnehmer«, in: Chronik der ARD o. J., http://web.ard.de/ard-chronik/index/6116?year=1960&month=1
6 Zu den ersten nationalen TV-Ereignissen in der Bundesrepublik Deutschland gehörten die Live-Übertragung der Londoner Feierlichkeiten anlässlich der Krönung von Elizabeth II im Sommer 1953 und der Fußballweltmeisterschaft in Bern im Sommer 1954.
7 W. Menge: Sylt, 21. Juni 1987.
8 Der Polizeibericht