Der Televisionär. Группа авторов
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Doch in Menge selbst wuchsen Zweifel; zwar nicht an seiner dokumentarisch geprägten Arbeitsweise, wohl aber an den erzählerischen Formen, in denen er die Ergebnisse seiner Recherchen aufarbeitete. Dieselbe journalistische Schulung und kritische Haltung, die einst seine dokumentarische Wende als Drehbuchautor ausgelöst hatte, führte nun dazu, dass sich sein Interesse forschend auf das Medium Fernsehen selbst zu richten begann. Zum einen analysierte und dekonstruierte er die spezifischen Formen, die sich binnen verhältnismäßig kurzer Zeit in der Television ausgebildet hatten und in denen sie ihre Inhalte vermittelte. Neben dem Fernsehspiel waren das vor allem das Magazin, die Show und die Nachrichtensendung. Zum anderen hinterfragte er die institutionellen Kontexte, in denen das Fernsehen als Leitmedium der Bonner Republik funktionierte oder in naher Zukunft funktionieren könnte.
Diese – nach der ersten, der dokumentarischen Wende in seinem Schaffen – nun zweite mediale Wende um 1968 versteht sich im Kontext der Fernsehgeschichte wie der Kulturgeschichte. Mehr noch als zuvor die Durchsetzung des Films bewirkte der Aufstieg der Television, der sich gegen Ende der 1960er Jahre statistisch vollendete, einen Wandel der Lebenswelt und ihrer Wahrnehmung. Um angemessen handeln zu können, bedurfte es stets der Befähigung, zwischen Tatsächlichem und Imaginiertem, Vorgefundenem und Erfundenem zu differenzieren und beiden Aspekten, wie Slavoj Žižek schreibt, ihr Recht zu geben: »[A]s soon as we renounce fiction and illusion, we lose reality itself; the moment we subtract fictions from reality, reality itself loses its discursive-logical consistency.”2
Unter den Bedingungen industrieller (Massen-) Medien konzentrierte sich diese Anstrengung der Rezipienten auf jene Qualitäten der medialen Angebote – Texte, Bilder, Fotos, Filme –, die wir unter dem Begriff des Authentischen fassen: auf eine Echtheit also, wie sie die Identität des Medialen mit dem Wirklichen verbürgt (oder zu verbürgen scheint). Bereits die Nutzung von Massenpresse, Radio und Film für Propagandazwecke, die nicht nur die totalitären Regimes der Vorkriegs-, Kriegs- und Kalte-Kriegs-Nachkriegszeit offen praktizierten, hatte diese – seit den 1920er Jahren – traditionelle Ansicht von der Objektivität und damit Authentizität fotografischer beziehungsweise filmischer Artefakte unterminiert.
Die Erfahrung des Fernsehens, die bald die Mehrheit der Menschen in der entwickelten Welt machen sollte, war jedoch von anderer Qualität. Bei ihr ging es nicht um gezielte – und damit durchschaubare und prinzipiell abstellbare – Manipulationen nach konkreten Herrschaftsinteressen, wie sie etwa die kritische Theorie der »Kulturindustrie als Massenbetrug« unterstellte.3 Das Fernsehen manipulierte vielmehr auch dort, wo keine – bösen oder guten – Absichten erkennbar waren. Zumindest den kritischen unter seinen Zuschauern demonstrierte es alltäglich, dass Medien die Ereignisse, die sie vermitteln – politische Debatten wie sportliche Wettkämpfe, Kriege wie Karneval –, keineswegs schlicht aufzeichnen, sondern durch ihre je spezifischen medialen Erfordernisse und Qualitäten prägen, partiell gestalten, wenn nicht gar vollständig modifizieren. Nach einigen Jahrzehnten wurde der Verdacht, dass das Fernsehen nicht authentisch sei und auch gar nicht sein könne, zur Gewissheit. Johannes Gross formulierte diesen Umstand 2007 so:
»Das Fernsehen ist unter allen Medien das unsensibelste für Fälschungen – weil es selbst auf Täuschung beruht. Alles ist artifiziell. Die Auftretenden sind geschminkt; der seltene Vogel, den die Dokumentation über den Anden schwebend zeigt, wird in der Nahaufnahme durch einen im Zoo ersetzt; aktuelle Vorgänge sind mit Archivbildern illustriert; die Wetterkarte, auf der die Meteorologin kundig fuchtelt, ist ihr selber unsichtbar, weil sie auf Bluebox eingespielt wird.«4
Vierzig Jahre zuvor jedoch, in den 1960er Jahren, war die Einsicht noch neu und wenig verbreitet. Die Zeit war vielmehr geprägt von einer gesteigerten Suche nach dokumentarischer Authentizität und diversen Anstrengungen, sie zu produzieren. Sie reichten von den Filmen des Direct Cinema und Cinéma Vérité über die Werke des Neuen Deutschen Films, in denen Authentizität – im Gegensatz zum realitätsfremden oder sogar realitätsfeindlichen Illusionismus von »Papas Kino« oder der Traumfabrik Hollywoods – zur zentralen Kategorie wurde,5 bis hin natürlich zum Fernsehen selbst, das zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit Alltägliches wie Welthistorisches, einen Krieg oder eine Mondlandung, mehr oder weniger live in die Wohnzimmer brachte.
Nur scheinbar im Gegensatz dazu standen die in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts vielfältig aufkommenden Versuche, das durch Recherche Authentifizierte abhängig vom Medium ästhetisch aufzubereiten, also etwa wie im Neuen Deutschen Film mittels filmischer Mittel zu subjektivieren oder wie im New Journalism und der deutschen Dokumentarliteratur jener Jahre mittels literarischer Verfahren zu fiktionalisieren. Die epistemologische Grundlage dafür war die Entdeckung dessen, was wir Medialität nennen, des Faktums also, dass – in den Worten Marshall McLuhans – »the medium is the message«.6 Die Einsicht, dass vor allen Kunstwerken und Kommunikationsakten einzelne Medien existieren, die sich gleichermaßen und gleichzeitig zu künstlerischen wie kommunikativen Zwecken nutzen lassen, zu Inszenierung und Dokumentation, zu Unterhaltung, Propaganda und Aufklärung, rückte damals ins Zentrum der intellektuellen Debatten wie zahlreicher avantgardistischer Experimente. In der theoretischen Kritik bewirkte die Beschäftigung mit den ästhetischen Effekten und soziokulturellen Wirkungen medialer Vermittlung eine systematische Begründung der Medientheorie und in der Folge die Institutionalisierung der Medienwissenschaften. In der künstlerischen Praxis – in der Literatur, in den Bildenden Künsten, im Film und natürlich im Fernsehen selbst – führte sie zu wegweisenden Experimenten mit Mischformen fiktionalen und dokumentarischen Erzählens.
Avancierte Fernsehproduktionen, vor allem in Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, stellten sich so in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren erstmals der Wirkung des noch jungen Massenmediums selbst. In seinem Zentrum erkannten sie eine spezifische Modulation medialer Erfahrung: die Etablierung eines neuen Verhältnisses von Faktizität und Fiktionalität beziehungsweise der Vermittlung faktischer Geschehnisse und der Inszenierung fiktiver Geschehnisse.7 Zu den herausragenden audiovisuellen TV-Werken dieser Phase zählen neben – und zeitlich zwischen – The War Game8 und F for Fake9 drei Fernsehfilme nach Drehbüchern von Wolfgang Menge: Die Dubrow-Krise10, Das Millionenspiel11 und Smog12. Sie kennzeichnet, dass sie als audiovisuelle Narrationen Faktisches und Fiktives mischen, das fiktionale Resultat jedoch als Dokumentation oder zumindest unter Verwendung dokumentarischer Erzählformen und Stilmittel präsentieren. Für diese Hybridformen hat sich im Englischen der Neologismus faction eingebürgert.13
Die mediale Wende, die Wolfgang Menge über ein halbes Jahrzehnt – von 1968 bis 1973 – zu Experimenten mit faktionalen Fernsehspielen führte, hatte formale wie inhaltliche Konsequenzen. Zum Ersten veranlasste ihn die Anstrengung, den journalistisch-penibel recherchierten Inhalten einen auch ästhetisch angemessenen, also innovativen Ausdruck zu geben, das vom Kino übernommene Korsett des Erzählfilms abzustreifen und in fernsehspezifischen Formen wie Magazin und Show neue, eher mosaikhaft-fragmentarische und der Tendenz nach nonlineare Erzählformen zu suchen. Zum Zweiten schritt er thematisch von der Authentifizierung des Tatsächlichen beziehungsweise der Gegenwart – den semi-dokumentarischen Verbrechen der Stahlnetz-Serie oder des Polizeirevier Davidswache-Spielfilms sowie der fast tagespolitischen Aktualität von Begründung eines Urteils oder Fragestunde – zur Authentifizierung des Möglichen fort: den Szenarios einer potentiellen Wiedervereinigung, eines potentiellen Privatfernsehens, einer potentiellen Umweltkatastrophe.