Der Televisionär. Группа авторов
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Ihren künstlerischen Höhepunkt erreichte die Phase filmischer Faktion im klassischen Hollywoodkino mit Citizen Kane.25 Die Gelegenheit, diesen Film in alleiniger Verantwortung zu machen, erhielt der erst 25-jährige Ko-Autor, Regisseur und Hauptdarsteller Orson Welles auf Grund des großen Erfolgs der Radio-Faktion War of the Worlds nach H. G. Wells gleichnamigem Zukunftsroman.26 Halloween 1938 hatten Welles und die Mitglieder des New Yorker Mercury Theatre die angebliche Invasion der Erde durch Marsbewohner im Rahmen einer einstündigen Musiksendung inszeniert. Deren vermeintlich reguläres Programm unterbrachen sie mit einer Serie eskalierender Eilmeldungen im Nachrichtenstil. Schließlich berichtete ein Reporter live vom Ort der vermeintlichen Raumschifflandung, und ein Regierungsvertreter, der stimmlich und im Duktus an den amtierenden Präsidenten Franklin D. Roosevelt erinnerte, sprach zur Bevölkerung. Tausende Zuhörer, so heißt es, ließen sich täuschen.27
Von Welles’ erstem Spielfilm erhoffte sich das Hollywoodstudio RKO ähnlich Spektakuläres. Doch für die Wirkung der Sendung waren zwei mediale Eigenschaften des auditiven broadcast-Mediums verantwortlich: die Befähigung zur Live-Berichterstattung und der Umstand, dass Radiosendungen in der Privatsphäre und nach eigenem Belieben rezipiert wurden. So konnte es geschehen, dass jene Zuhörer, die sich erst später zugeschaltet und die Anmoderation wie die anfänglichen Warnungen verpasst hatten, die Sendung für einen Tatsachenbericht halten konnten. Sie wiederum alarmierten andere, die gar nicht Radio oder ein anderes Programm gehört hatten, zum Ein- oder Umschalten. Ein audiovisuelles Äquivalent, ein Massenmedium, das in Echtzeit nicht nur Ton, sondern auch laufende Bilder in die Wohnungen transportierte, existierte Anfang der vierziger Jahre noch nicht.28
Welles war daher gezwungen, seine audiovisuelle Faktion um das geheimnisvolle Leben eines allmächtigen Pressebarons – modelliert nach dem lebenden Vorbild William Randolph Hearst – dem Medium des Kinofilms anzupassen. Dies gelang ihm, indem Citizen Kane die Zuschauer zunächst dort abholte, wo das Versprechen eines Unterhaltungsfilms sie hingelockt hatte: im Genre der Fiktion. Die legendären ersten Minuten, die nächtliche Annäherung an Xanadu und das Sterbezimmer Kanes, operieren stilistisch mit Mitteln des expressionistischen Schauerfilms und der Film-Noir-Investigation. Ein harter Schnitt katapultiert den Film dann jedoch in das nonfiktionale Genre der Wochenschau. Der zehnminütige Beitrag der fiktiven News on the March war stilistisch von einer regulären March of the Time-Produktion bis zur Verwendung scheinbar historischen, beschädigten Bildmaterials nicht zu unterscheiden. Schließlich mündete die vermeintliche Wochenschau in den Blick hinter die Kulissen des Mediums und damit in den reportagehaften Hauptteil des Films. Er prätendiert, die journalistische Recherche zu dokumentieren, in deren Verlauf Mosaikstein für Mosaikstein und notwendig nonlinear Kanes Leben rekonstruiert wird.
Beides, der Einblick in die Verfahren der Medienproduktion und die Rekonstruktion der Tatsachen durch Recherche, sollte in den TV-Faktionen der sechziger und siebziger Jahre eine wesentliche Rolle spielen. In seiner Kinojugend bekam Wolfgang Menge freilich von diesen amerikanischen Filmen der Vorfernsehjahre wenig mit. Partiell nur konnte er, konnte das deutsche Publikum das Versäumte nach dem Krieg nachholen. Citizen Kane wurde in Westdeutschland 1962 gezeigt, Confessions of a Nazi Spy und andere Anti-Nazi-Filme, obwohl oder gerade weil an ihnen deutsche Emigranten prominent mitwirkten, erst in den siebziger Jahren. Wesentlicher aber war, dass sich mit dem Fernsehen nun ein audiovisuelles Medium durchsetzte, das wie das Radio, in dem einst Welles War of the Worlds inszenierte, live berichterstatten konnte.
Vor allem zwei Besonderheiten zeichneten sein Programm aus: einerseits die kombinatorische Abfolge traditionell (ab-) geschlossener Medienwerke mit im Ausgang prinzipiell offenen Live-Sendungen, andererseits die mediale Integration dokumentarisch-faktischer Berichterstattung und inszeniert-fiktionaler Unterhaltung. In jedem der vier Bereiche hatten sich in den 1960er Jahren distinktive Formen und Formate ausgebildet. Deren Spezifika ermöglichten den zunehmend erfahrenen Fernsehzuschauern binnen Sekunden nach Zuschaltung die Orientierung, ob sie die Ausstrahlung einer aufgezeichneten Serie sahen oder eine Live-Übertragung beziehungsweise ob sie in eine Spielhandlung oder in nonfiktionale Genres wie Nachrichten, Magazin oder Dokumentation geraten waren. Ästhetisch eröffnete dieser Entwicklungsstand des Mediums – wie einst die Ausbildung nonfiktionaler Formen im Film und im Radio – das Potenzial zur Hybridisierung.
In diesem Kontext versteht sich das Genre der TV-Faktion, das sich um die Mitte der sechziger Jahre international und vor allem im europäischen Fernsehen ausbildete. In Deutschland ging es den institutionell Verantwortlichen, wenn man ihren Selbstauskünften folgt, zu dieser Zeit um zweierlei: zum einen um eine Adaptation des neuen audiovisuellen Mediums an die Qualitätsmaßstäbe des alten. Das Fernsehspiel sollte qualitativ zum Film aufschließen, kinematografischer werden. »Mit ihrem Leiter seit Mitte der 1960er Jahre, Günter Rohrbach, wandte sich das WDR-Fernsehspiel verstärkt filmischen Formen zu, setzte auf eine Zusammenarbeit mit den Regisseuren des Neuen deutschen (Kino-)Films wie Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff, Wim Wenders u.a. [...].«29
Gleichzeitig jedoch wollten die Verantwortlichen auch mit ihrem – immer noch neuen – Medium experimentieren, »die fernsehgenuinen Formen des Erzählens und Darstellens weiterentwickeln.«30 Dies war auch der Ansatz, den Wolfgang Menge verfolgte. Sein Fokus lag dabei auf dem, was vielleicht nicht wahrscheinlich, aber dennoch möglich schien. Zwischen 1968 und 1973 schrieb er so – neben vielem anderen – drei bahnbrechende TV-Spiele, in denen er auf unterschiedliche Weise damit experimentierte, Faktisch-Dokumentarisches mit Fiktiv-Fiktionalem zu paaren. Dass dies gelang – in der öffentlich-rechtlichen Institution erlaubt wurde –, verdankte sich wesentlich dem historischen Augenblick:
»Medienpolitisch und -ökonomisch [...] befinden wir uns noch in einer Situation, in der eben solche medialen Forschungsexperimente jenseits des Drucks des Marktes und der Konkurrenz – und das heißt im Fernsehdeutsch: ohne Blick auf die Quote – wenn schon nicht gefördert, so doch zumindest immer wieder geduldet wurden.«31
4 Spiel mit der Faktionalität I: War Game und Die Dubrow-Krise
Im Laufe der sechziger Jahre erweiterte sich das bundesdeutsche TV-Angebot mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) und dann den dritten ARD-Programmen vom Monopol des Ersten Programms zum öffentlich-rechtlichen Oligopol. Seit Mitte des Jahrzehnts dominierten Fernsehsendungen das öffentliche Bewusstsein und Leben, ablesbar an Wasserverbrauch und Verkehrsaufkommen. In einer Vielzahl von Experimenten bildeten sich einerseits neue soziale Strukturen und kulturelle Normen heraus, andererseits die meisten jener ästhetischen Formen – etwa Serie, Show, Magazin –, die für den Rest des Jahrhunderts das deutsche TV-Programm prägen sollten. 1967 wurde in der Bundesrepublik das Farbfernsehen eingeführt, zwei Jahre später auch in der DDR. Erst mit dieser gesteigerten fotorealistischen Wirkung wurde das Fernsehen zum zentralen, der medialen Konkurrenz von Film und illustrierten Magazinen überlegenen Mittel der Welterfahrung. Um 1970 vollendete sich so der Aufstieg des Fernsehens von einem Massenmedium unter anderen zum kulturellen Leitmedium, d. h. zu dem Medium, das die Weltwahrnehmung, das Menschenbild und die Wertvorstellungen der Zeitgenossen dominierte.
Diesem nachhaltigen Wandel der Rolle, die das Fernsehen innerhalb der zeitgenössischen Kultur spielte, korrelierten ästhetische Experimente innerhalb des Mediums selbst, die seiner Zukunft wie generell der medialen Zukunft die Bahn zu brechen suchen. Dabei formten sich nicht zuletzt neue Erzählweisen, die dem Fernsehen zuvor unbekannt waren. Zu ihnen gehörte die aufkommende TV-Faktion. Ihr selbstreflexives Spiel mit der eigenen Medialität