Die Poesie des Biers 2. Jürgen Roth

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Die Poesie des Biers 2 - Jürgen Roth

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Off-Stimme brummte: ›Die vergangenen dreißig Sekunden Dunkelheit wurden Ihnen von Arthur Guinness ins Haus gebracht.‹«

      Wir erinnern uns an einen Satz von Fergal Murray: »Jeder spricht überall auf der Welt nur gut über Guinness.« Sotscheck lacht. »Klar, und was ist mit dem grauenhaften Hellen, dem Harp, das sie außerdem brauen? Mein Schwager ist nach neun Gläsern Harp mit Magenbluten im Krankenhaus gelandet. Der Arzt fragte ihn: ›Haben Sie Harp getrunken?‹ Mein Schwager bejahte. Da sagte der Arzt: ›Dachte ich mir, Sie haben eine Harpattack.‹«

      Mag sein, daß, wie Anthony Burgess monierte, in Dublins Pubs »zuviel geredet« wird. Aber reden macht durstig – eine angenehme Reziprozität. Wir ordern regelwidrig ein achtes Guinness, und allmählich haben wir uns »in eine weiche […] Stimmung getrunken«, von der es bei Brendan Behan des weiteren heißt: »Jeder war jedermanns Freund, und das ist das größte Glück, das wir auf dieser Welt haben, wenn es auch nicht immer leicht und gewiß ist, ob man diesen Zustand erreicht.«

      Wir haben ihn erreicht.

      Wolkengewölle, dahin und wieder

       daher

      Er freue sich »sehr auf dieses ernsthafte, tannendunkle Gebirge«, schrieb Karl Immermann vor einer Wanderung zum Ochsenkopf und anschließend nach Wunsiedel. »Gott gebe schönes Wetter.«

      Wir wissen nicht, wie der Wettergott dann gestimmt war, aber die meteorologischen Realitäten im östlichen Oberfranken sind – sogar im Hochsommer – zumeist ernüchternd, manch einer behauptet: beschämend. Schon in der Gegend von Bayreuth quetschen sich für gewöhnlich aschige und bedrohlich finstere Wolkenknäuel und -kleckse in- und übereinander, fürwahr wütend wirkt das. Auf Aufhellungen zu hoffen ist in der Regel sinnlos, das Fichtelgebirge kennt in Sachen Witterung selten Spaß.

      »Die Gegend um Wunsiedel ist sehr kalt«, hielt Immermanns Zeitgenosse Ludwig Tieck im berühmten Briefwechsel mit seinem Freund Wilhelm Heinrich Wackenroder über ihre »Pfingstreise von 1793 durch die Fränkische Schweiz, den Frankenwald und das Fichtelgebirge« fest. Hätten die beiden Erlanger Studenten ausschließlich das granitene Rumpfgebirge durchstreift, die nachträgliche Korrespondenz wäre nicht zum Gründungsdokument der deutschen Romantik geworden.

      »Man nennt diese Gegend ›das bayerische Sibirien‹«, sagt der aus Hof stammende Theaterregisseur und -dramaturg Helmut Schödel. »Das Gefühlsleben der Menschen hat Frostbeulen, und ihre Sprache ist knapp, schroff und karg.«

      Die Wölfe kehren zurück, wird erzählt. Die Raubtiere benötigen dünnbesiedelte Habitate, und das Fichtelgebirge entvölkert sich seit Jahren geradezu. Eine Stadt wie Selb liegt gewissermaßen in Agonie, die Porzellanindustrie weithin am Boden. Ortskerne veröden und zerbröseln, Wunsiedel soll zu einer Stadt der Senioren werden. Vor dem Fall der Mauer kamen wenigstens noch die Westberliner und machten Urlaub. Auch vorbei.

      An der Autobahn hinter Bayreuth prangt ein Schild: »Genußregion Oberfranken – Land der Brauereien«. Kurz nach Bad Berneck, wo ein Getränkemarkt mit dem Slogan »Lust auf Durst?« verzweifelt um Kundschaft buhlt, kasteln uns Fichtenrigipswände ein. Über uns hetzen Wolkengewölle dahin und wieder daher.

      Bischofsgrün kauert im Holz. »Das Wetter war sehr trübe, und es regnete sogar etwas«, klagte Tieck. »Wir kamen in eine ziemlich uninteressante Gegend. Das Wetter ward immer unangenehmer; ein kalter, schneidender kleiner Regen trieb uns entgegen; ein feuchter Nebel stieg aus den Bergen und Wäldern auf.« Und jetzt schiebt sich der Nebel wie ein Schleier über den schummerigen Fichtelsee und eine einsame, herzergreifend stille Landschaft, deren herbe Schönheit, da müssen wir Tieck widersprechen, an manchen Ecken beinahe Züge von Amönität gewinnt.

      Eine Viertelstunde Fahrt gen Osten, durch einen undurchdringlichen Forst, nach Wunsiedel. Eine »gute, lichte Stadt« sei sein Geburtsort, meinte Jean Paul, Kollege Tieck hielt dafür: »Die Stadt ist klein. […] Sie hat ein sonderbares Aussehen«, während Reisegefährte Wakkenroder das unbestechliche Urteil fällte: »Die Straßen gehen bergauf, die Häuser sind ziemlich gut.«

      Die Straßen gehen auch wieder bergab, und einige Häuserzeilen im Zentrum, herausgeputzt, lakkiert, poliert, sind tatsächlich schön anzusehen. Doch die »Stadt der Brunnen«, die auf Grund der hiesigen Niederschlagsmengen keines künstlichen Zulaufs bedürfen, empfängt uns mit energisch verwitternden Häuserwänden, heruntergewirtschafteten hölzernen Fensterläden und Hoftoren, unlesbaren Wegweisern, graubraunen, geduckten, merkwürdig zusammengewürfelten Bauten, mit Geschäften mit Billigstangeboten und mit der stillgelegten Sechsämtertropfen-Manufaktur.

      Von der Gaststätte Schelter, eigentlich: Gaststätte Wiesental, in Wintersreuth war im Vorfeld die Kunde gegangen, von einer schlichten Bauern- und Brotzeitwirtschaft, wie es sie kaum mehr gebe. Ein Kleinod des Unprätentiösen sei die Schelter, früher ist sie geführt worden vom Schelters Gorch, vom Georg Schelter, heute regieren der Sohn, der Metzgermeister Rudi, und die alte Frau Schelter in der Küche, und im Schankraum hat die Anni das Sagen, Rudis Frau.

      Also wieder Richtung Osten, allerdings bloß ein paar Kilometer. Wintersreuth. Im Mai, im Juni, im Juli kann hier Winter sein. Felder und Wiesen ziehen sich wie Samt übers sanfte Tal. Bachbäume, Buschsäume, Obstbaumsolitäre vor Fichtenparavents, die naßglänzende Straße schlängelt sich durch übermütig sprießendes Grün, der Himmel ergraut in allen denkbaren Anthrazittönen, der Nebel schleicht umher.

      Neben dem unauffälligen Wirtshaus ein kleiner, ordentlich eingefeuchteter Biergarten mit Blick auf die mild geböschte Umgebung – und, inmitten einer Wiese, ein kniehoch hölzern eingezäunter Kräutergarten, ein Sinnbild für Franken. »Nichts will hier imponieren«, lobte der Reiseschriftsteller Horst Krüger Ende der siebziger Jahre Franken, »das andere, stille Deutschland«. Und wir schließen uns ihm an: »Ich bin jedesmal wieder erstaunt, daß es so etwas gibt: intakte Provinz, eine unzerstörte Region.«

      »Wos wollts ’n ihr?« Wenn jemand bodenständig freundlich, gutmütig forsch ist, dann die Anni Schelter. Aus dem ganzen Landkreis kommen sie hierher, Ärzte, Arbeiter, Angestellte. Dieses Elysium, heißt es, sei stets vollbesetzt. Zur Mittagszeit stehen die Leute Schlange, um an die konkurrenzlos günstigen Edelspeisen zu gelangen, abends bevölkern Wurstbrotesser, Plauderbedürftige, Dämmerschoppentrinker und andere Spezialkräfte die segensreiche Normalkneipe.

      »Do hast a Bea!« Es kann passieren, daß das Bier, wenn Anni es auf den Holztisch knallt, überschwappt. Das Interieur ist von jener Art, daß man es nicht zu beschreiben braucht – ehrwürdig, einfach. Warum verschwinden allerorten solche Lokalitäten? Warum werden sie von der Welt verschluckt? Warum muß alles, was eben nur scheinbar überkommen ist, weg? Zugesperrt, abgerissen werden? Im Namen des Fortschritts, der Walter Benjamin zufolge die Katastrophe ist, in der wir uns eingerichtet haben? Und die wir daher nicht mehr sehen?

      Von legendären Schlachtschüsseln, von Schweinernem auf höchstem Niveau, von seraphischer Sülze und gnadenreichem Büchsenfleisch, von Bratwürsten, die man vergolden möchte, von Stockfisch und vielem anderen geht die Rede – ohne Ausnahme im Familienbetrieb hergestellt. Wir bestellen die Spezialität des Hauses, angebratene Göttinger mit Sauerkraut, das hier durch die Beigabe von Kartoffelstärke zu einem deliziös cremigen Gericht gerät und uns wie ein synästhetisches Echo auf die zauberhaft spröde Gegend mit ihren Rundungen, Wiesenbuchten und Waldbögen dünkt.

      Nun will man nichts mehr – außer etliche redliche, gezapfte Biere von örtlichen Brauinstituten zu trinken und betört-belemmert den halb auf düsterfränkisch, halb auf oberpfälzisch geführten Debatten über Wagner-Inszenierungen in Bayreuth zu lauschen. Denn wie schrieb Jean Paul? »Sie sahen erfreut dem Freuen zu.«

      Ja, das ist es, das Jean Paulsche »Vollglück in der Beschränkung«, Schutz

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