Die Poesie des Biers 2. Jürgen Roth
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Der von beinahe unermeßlicher Liebe zu den kleinen Leuten erfüllte poetische Enzyklopädist wollte ohne Bier nicht sein. Er kenne »keinen Gaumen-, nur Gehirnkitzel«, notierte er, »und steigt mir eine Sache nicht in den Kopf, so soll sie auch nicht in die Blase«.
Bloß sehen, riechen, lauschen – dem leis’ knisternd in sich zusammensinkenden Bierschaum über einem rechtschaffen goldenen Flüssigkeitszylinder. Höheres, meint man zuweilen, gibt es kaum. Derweil erzählt die Kulturwissenschaftlerin und -managerin Karla Fohrbeck, die ein Büro in Jean Pauls letzter Wohnstätte unterhält, im »Schwabacher Haus« in der Friedrichstraße, den Antipreußen und Antimilitaristen par excellence habe »Disziplin überhaupt nicht interessiert«, und sie fügt hinzu: »Ich denke, er brauchte diesen Schwebezustand, den er durchs permanente Biertrinken erzeugte, um es hier auszuhalten.«
Jean Paul labte sich am »Zaubergürtel« der Natur, am »so grün angestrichenen Präsentierteller von Gegend« und an den »wie schimmernden, aus dem Äther gesunknen« Baulichkeiten, und wahr bleibt, was Ludwig Börne in seiner Denkrede am 2. Dezember 1825 aussprach: »Er sang nicht in den Palästen der Großen, er scherzte nicht mit seiner Leier an den Tischen der Reichen. Er war der Dichter der Niedergeborenen, er war der Sänger der Armen«, und er verachtete die Indolenz des Adels.
Gleichwohl litt er unter den »illiterarischen« Inhabitanten: »Bayreuth hat einen Fehler, daß zu viele Bayreuther darin wohnen.« Das hat man ihm offenbar verziehen. Jean Paul sei heute, sagt Karla Fohrbeck, eine der maßgeblichen Initiatoren des Ende 2012 fertiggestellten, rund zweihundert Kilometer langen Jean-Paul-Wegs von Joditz bei Hof bis zum Felsengarten Sanspareil im Kulmbacher Land, »die Corporate-Identity-Figur für Oberfranken«: »Sie nehmen ihn als einen der ihren wahr.«
Für allerlei touristische Werbung hält Jean Paul mittlerweile her. Wird er dadurch wieder öfter gelesen, soll es so sein. Auf dem nach ihm benannten Wanderweg informieren Textstelen und -tafeln an hunderteinundsechzig Stationen über Leben und Werk. Die sich von Norden nach Südwesten durch Oberfranken schlängelnde Route sei »eine Energielinie«, erläutert Karla Fohrbeck, sie sei »das geistige Rückgrat der Region« und »die geheime Lebensader des alten Markgrafentums Bayreuth-Brandenburg«.
Vierzehn Kilometer nordöstlich von Bayreuth führt der Jean-Paul-Weg durch Goldkronach. Eine erste Ansiedlung an der Handelsstraße nach Böhmen datiert man ungefähr auf das Jahr 1000, seit Mitte des 13. Jahrhunderts war das Städtchen im Besitz des Grafen von Andechs, ein Jahrhundert später fiel es an die Nürnberger Burggrafen, 1792 wurde es preußisch.
Wem weniger nach einer »Kultwanderung«, wie es im üppigen Begleitbuch zum Jean-Paul-Weg heißt, zumute ist, hockt sich in oder vor einen der zwei Gasthöfe des Ortes und trinkt »ein Nößel Bier« (Jean Paul). Die Leute wollen »weg vom Eventtourismus«, sagt der Vertreter der Tourismuszentrale Fichtelgebirge, Ferdinand Reb, und da sind wir hier am goldrichtigen Platz – »der stille laue Himmel« (Jean Paul) über uns, das Gesetz der Friedlichkeit in uns, des »heiligen Hinbrütens und ruhigen Anschauens« (Friedrich Schlegel).
Hier, im Nordosten Bayerns, werde nichts inszeniert, unterstreicht Ferdinand Reb. »Wenn der Fels dasteht, dann steht der da. Denn der ist echt.« Dem Hotel-Gasthof Alexander von Humboldt ist eine echte Metzgerei angegliedert, die Metzgerei Kleinheinz, die bietet zum Beispiel Brotzeitbauch und Debreziner an. In ihr riecht es sagenhaft gut, und in einer beheizten Vitrine thront ein riesiger Leberkäse, so schickt sich das. Die Metzngerei Hentschel wurde leider aufgegeben, im Schaufenster informiert ein Aushang über die nächste Zusammenkunft des Handarbeitskreises, dafür gibt es zwei echte Bäckereien, die praktischerweise beide Beck heißen. Über dem Firmenschild des »Straßen-Beck« glänzt eine goldene Brezel. Anisbrezeln sind eine Spezialität, ebenso die frischen Küchla einmal pro Woche.
»Gehst zum Beck oder zum Beck?« Nein, wir bleiben sitzen, auf der typisch fränkisch-funktionalen Terrasse des Hotels Humboldt, eingebettet in Stille. Rotbraune Schindeldächer über uns, über denen die Mauersegler Fangen spielen. Jemand stellt die Frage: »Was kann man denn zu Goldkronach noch erzählen, außer daß ein Vogel auf dem Dach sitzt?« Muß man denn?
Außer dem Gegurgel des Brünnchens zwischen den Tischen und den Bierbänken und einem zaghaft herüberwehenden Glockenschlag vernimmt man nichts. Das Bier steht stad im Glas. Die Luft kräuselt sich lind in sich. Die Welt hat zu Ende meditiert. »Die Sonne schien, da sie keine Wahl hatte, auf nichts Neues.« (Samuel Beckett) Nichts weiter braucht es, gar nichts weiter.
In einer der anrührendsten Erzählungen der deutschen Literaturgeschichte, in Jean Pauls Idylle Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal, delektiert sich der Protagonist am »Schwalben-Scharmutzieren über sich«, »voll Durst, einen Himmel auszutrinken«. Er mißbilligt die »Hatztage, wo die ganze Erde ein Hatzhaus ist«, und pflegt in seiner herzergreifenden Milde und Bedürfnislosigkeit die »Kunst, fröhlich zu sein«, die er mit einem freundlichen Imperativ auf den Punkt bringt: »Man soll zufrieden sein mit dem, was man hat – und das mit offenen Sinnen auskosten.« Also Dinge seinlassen, gewähren lassen, sich nicht belästigen lassen durch die dummen, endlos wiederholten Wettbewerbsparolen unserer Zeit.
Goldkronach, das »Tor zum Fichtelgebirge«, hat ohne die eingemeindeten Ortsteile kaum zweitausend Einwohner. Will man die wunderbare »Trink-Leere« (Jean Paul) ein bißchen füllen, geht man gemach Ekken gucken. Auch hier verstehen es die Einheimischen selbstverständlich, abscheulichste Baumarktvorgärten und Fertigbetongaragen ins Ortsbild zu stopfen, und warum sollten sie in Goldkronach fehlen, die Waschbetonmauern an abfallenden Bürgersteigen, die Fassadenverkleidungen aus Eternit- und PVC-Paneelen, die Klinkermauerbänder, die uniform häßlichen Normtüren und -balkone, die steril gepflasterten Hofeinfahrten, die nordbayerischen Varianten dilettantischer Lüftlmalerei (besonders ein antikisierter Doppelfensterbogen mit Silberreiher und Ara überzeugt uns) und die obligatorische triste Sitzgruppe (hinter der neugotischen Pfarrkirche St. Erhard). Und natürlich muß es Baulanderschließung geben, direkt am Schloßpark, unter dem Motto »Modernes Wohnen« freilich, die gelbgrüne Wiese hat da nichts verloren, und die freie Sicht auf den Goldberg im Osten ist viel zu pittoresk.
Gleichwohl erspähen wir tröstliche Winkel: eine würdevoll verwitternde große Scheune, vor der die Malven sprießen, buschige violette Geranien vor sattgelbem Putz, eine ungeöffnete, von der Sonne illuminierte Flasche Kulmbacher Bier hinter einem Schuppen, Fenster, hinter denen sich surreal wirkende Skulpturen aus Draht und Stahlteilen zeigen, eine blitzschöne pechschwarze Schindelhausfront. An der Bayreuther Straße steht ein ob seiner Schlichtheit und klaren Form geradezu anmutiges Werkstattgebäude. An einer bemoosten Granitwand in einer Seitengasse lehnen ausrangierte Bauernhausfenster und Bauernhausfensterrahmen. Das schwarzrotgoldene Banner (das einzige in der Stadt), das in einer Blechgießkanne steckt, übersehen wir.
Am südlichen Ortsausgang schwankt eine Gartenblockhütte auf einem provisorischen Fundament aus Ytong-Steinen. An ihrem mit einer grünen Plastikplane abgedeckten Dach hängt die Frankenfahne (die einzige in der Stadt). Wenige Meter weiter zerbröselt ein weißviolettes Haus, dann erquickt uns eine schmutzige olivgrüne Gebäudlichkeit, die den Kosmetiksalon Ile de Beauté beherbergt.
Nach ein paar Schritten stoßen wir auf das 1865 gegründete Lebensmittelgeschäft Grieshammer in einem hübschen hellblauen Haus. Wir fühlen uns an unsere Kindheit im Mittelfränkischen erinnert, als wir beim Krämer für den gutmütigsten aller Großväter kühle Bauernflaschen Bier kauften: Fleisch- und Wurstgerüche im dämmrigen Geschäft, offenes Obst und