Was bildet ihr uns ein?. Группа авторов
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Auf Realschulen und Gymnasien ist diese Schülergruppe kaum anzutreffen.60 Denn die Empfehlung für diese Schultypen erhalten Schüler mit Migrationshintergrund selbst bei guten Noten eher selten. Die Begründung: Perfekte Deutschkenntnisse seien für einen Schulerfolg auf dem Gymnasium unerlässlich und an den Sekundarschulen mangele es an Sprachfördermöglichkeiten.61 Hier geht man bewusst davon aus, dass selbst bei guten Leistungen die Zweisprachigkeit der Schüler bei einem Gymnasialbesuch hinderlich sein werde. Um die Kinder vor diesen „negativen Erfahrungen“ zu „bewahren“, wie Lehrer aus Nordrhein-Westfalen in einer Studie von Gomolla und Radke angaben, werden die Übertrittsempfehlungen seltener ausgestellt als bei deutschen Schülern. Dass dieser Fall selbst dann eintritt, wenn beide Schülergruppen dieselben Noten und die gleiche soziale Herkunft aufweisen, konnten mehrere Studien bereits anschaulich belegen.62 Man nimmt außerdem an, dass die Eltern der Kinder mit Migrationshintergrund nicht in der Lage sind, ihre Kinder entsprechend zu unterstützen, so dass hier Vorurteile die Entscheidungen der Lehrer bestärken. Entscheidungen werden auch strategisch umgangen, indem die Gesamtschule von vorneherein als die Schule für Kinder mit Migrationshintergrund dargestellt wird.
Es wird also mit zweierlei Maß gemessen. Denn man übersieht systematisch, dass gerade Kinder aus einem anderssprachigen Haushalt wesentlich mehr leisten müssen, um dieselben Noten wie ihre muttersprachlichen Mitschüler zu erlangen. Denn Sachverhalte nicht in der Erstsprache aufzunehmen und darin zu arbeiten, erfordert hohe Anstrengung. Diese hohe Leistungsbereitschaft verwundert dabei nicht, denn Schüler mit Migrationshintergrund weisen, so wissen wir seit PISA, neben einer höheren Lernmotivation auch einen stärkeren Bildungswunsch auf als Nichtmigranten.63 Umso erschreckender ist die Tatsache, dass ihr Bildungsweg von Anfang an einem Wettrennen gleicht, bei dem schon vor Beginn feststeht, wer der Verlierer sein wird.
Gerade die Forderung nach „perfekten Deutschkenntnissen“ der Gymnasien ist höchst problematisch. Denn was genau versteht man unter „perfekten“ Deutschkenntnissen? Hier besteht die Gefahr, vor allem aufgrund des Migrationshintergrundes auszusieben. Denn wehrend beispielsweise Schülern mit einer Lese-Rechtschreibschwäche „bei angemessener Gesamtleistung“64 der Gymnasialbesuch ermöglicht werden soll, werden – vorhandene oder angenommene – Sprachprobleme bei Kindern mit Zuwanderungsgeschichte als Hindernis betrachtet. Dabei verliert man auch aus dem Blick, dass Rechtschreib- und Grammatikfehler deutschen Schülern ebenso unterlaufen können wie Schülern mit einem Migrationshintergrund. In diesem Fall würde jedoch kaum jemand sprachliche Mängel aufgrund der Herkunft attestieren.
Eines ist deutlich: Die fehlenden Sprachkenntnisse finden sich als Erklärungsmuster bei allen Übergengen vom Kindergarten bis zum Übergang in die Sekundarstufe I oder II wieder. Obwohl uns PISA eines besseren belehrt hat, werden ungleiche Bildungschancen selbst in der Wissenschaft noch immer als Folge fehlender Sprachkompetenzen von Migranten betrachtet und somit die Ursache vor allem bei ihnen und nicht im System gesucht.65
Deutschland muss endlich aktiv anfangen, sich als Einwanderungsland zu verstehen, denn das ist es bereits seit Jahrzehnten. So gehört der Umgang mit Mehrsprachigkeit und deren Vermittlung zu den Aufgaben, denen sich unsere Gesellschaft stellen muss, um Minderheiten sprachlich auf den Alltag in Schule und Beruf vorzubereiten und vor allem auch, um ihre soziale Integration zu unterstützen.
Der traurige Alltag an deutschen Schulen
Das Unterrichtskonzept, das in Deutschland am häufigsten für Mehrsprachigkeit angewendet wird, verdient es jedoch nicht einmal, überhaupt als Konzept bezeichnet zu werden. Kinder mit Migrationshintergrund werden einfach in die regulären Klassen gesetzt, ohne dass ihnen geholfen wird, die neue Sprache zu lernen.66 Dies geschieht in der naiven Hoffnung, dass Kinder von ganz allein Deutsch lernen, nur durch den täglichen Kontakt mit der Sprache. Submersion nennt die Erziehungswissenschaft dieses Prinzip. Es heißt so viel wie das „Untertauchen in eine Fremdsprache“.
Dieses vermeintliche Konzept wurde schon 1971 im Einwanderungsland USA als unrechtmäßig erklärt, weil es das Recht auf Chancengleichheit im Bildungssystem gefährde.67 Obwohl es dort als illegal gilt, wird es in Deutschland einfach verteidigt.
So findet Submersion in Klassen statt, in denen Schüler mit Migrationshintergrund sitzen, die mit ganz verschiedenen Muttersprachen aufgewachsen sind.68 Im Unterricht wird aber auf diese Vielfältigkeit nicht eingegangen. Es wird ausschließlich Deutsch gesprochen. Für die meisten Schüler ist das aber eine Fremdsprache, auch wenn sie in Deutschland geboren sind. Fremdsprache heißt nicht, dass sie diese überhaupt nicht sprechen. Die Kompetenzen der Kinder im Deutschen sind ganz unterschiedlich, je nachdem, in welchem Umfeld sie aufgewachsen sind bzw. wie lange sie hier schon leben. Es ist aber eben nicht ihre Muttersprache. Natürlich gibt es auch Kinder mit Migrationshintergrund, die sich im Alltag ohne Probleme verständigen können. Schwierigkeiten bereiten häufig die komplexe Grammatik des Deutschen sowie bildungssprachliches Vokabular wie ‚multiplizieren‘ oder ‚Substantiv‘. Das heißt, sie müssen sowohl eine neue Sprache als auch fachliche Inhalte verarbeiten. Trotzdem werden die Leistungen der Kinder mit Migrationshintergrund häufig an denen der deutschsprachigen gemessen. Doch wie kann man beides miteinander vergleichen? Nehmen wir an, die Schüler sollen ein Gedicht von zehn Strophen auswendig lernen. Eine große Herausforderung für die deutschen Schüler, eine dreifache für Kinder mit Migrationshintergrund. Diese müssen meist erst einmal üben, die Wörter zu lesen und richtig auszusprechen. Die nächste Hürde ist dann, deren Bedeutung zu verstehen, bevor sie sie schließlich auswendig lernen können. Wenn sie also in der gleichen Zeit nur drei Strophen können, ihre deutschen Mitschüler hingegen bereits fünf, bedeutet das keinesfalls, dass sie eine schlechtere Leistung erbracht haben. Fälschlicherweise wird diese Art von Bewertung jedoch häufig verwendet. So haben Schüler mit Migrationshintergrund kaum Erfolgserlebnisse, sondern werden vorwiegend auf Defizite und Schwächen hingewiesen. Hinzu kommt, dass einige Lehrer nicht die fehlende Unterstützung, sondern die Muttersprache als Hindernis für eine gute Bildung und Grund für die schlechten schulischen Leistungen darstellen.69
Das Ziel der Submersion, die Schüler mit Migrationshintergrund in die sprachlich dominante Mehrheit ohne großen Aufwand zu assimilieren,70 schlägt aber nicht nur dahingehend fehl. Es führt bei Schülern aus Sprachminderheiten gar zu einer gestörten Sprachentwicklung. So erreichen sie sowohl in ihrer Erstsprache als auch in der Zweitsprache nur ein geringes Niveau.71
Die Schwierigkeiten in beiden Sprachen haben zudem Misserfolg in der Schule zur Folge. Und so erbringen viele Kinder mit Migrationshintergrund schlechtere Leistungen als ihre deutschen Mitschüler, wodurch sich ein Rückstand aufbaut, der nur schwer wieder aufgeholt werden kann. Denn auch die kognitiven Fähigkeiten der Kinder können sich nicht vollständig entfalten, da fehlende Kenntnisse in der Zweitsprache keine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit den Gegenständen des Unterrichts zulassen.72
All diese Faktoren sind mit für das Selbstbild der Jugendlichen verantwortlich. Sie bekommen das Gefühl vermittelt, ein Problemkind oder gar minderwertig zu sein. Oft haben sie sogar den Eindruck, dass sie in dieser Gesellschaft nicht willkommen sind. Denn wie oft hören sie den Satz: Wenn du hier keine Ausbildung findest, kannst du ja zurückgehen. Doch zurück heißt Deutschland, denn sie sind hier geboren. Und so verwundert es nicht, dass sich einige Jugendliche bewusst abkapseln – zum Selbstschutz und aus Trotz. Nach dem Motto: Ihr wollt mich nicht, dann will ich euch auch nicht. Und mit dem Scheinkonzept Submersion wird man ihnen da kein anderes Gefühl vermitteln