Was bildet ihr uns ein?. Группа авторов
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Gerade für Kinder ist es nämlich wichtig, die individuellen Bedürfnisse von Menschen als etwas Normales und Alltägliches kennenzulernen und die Unterschiedlichkeit ihrer Mitmenschen als etwas Bereicherndes zu begreifen. Kinder gehen damit viel selbstverständlicher um als Erwachsene, da sie keine Vorstellung davon haben, was „normal“ ist. Die frühe Trennung aber führt dazu, dass Kinder den selbstverständlichen Umgang mit Beeinträchtigungen verlernen. Die Aufteilung auf verschiedene Schulen verdeutlicht ihnen die Unterschiedlichkeit zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. Für die Kinder mit Beeinträchtigung wiederum spiegelt der Besuch einer Förderschule nicht nur eine Bewertung ihrer vermeintlichen Leistung wider, sondern vielmehr gerade die Tatsache, dass sie im Vergleich zu den übrigen Kindern „anders“ sind.
Die Diagnose der sogenannten Lernbehinderung ist dabei besonders problematisch. Sie ist mit Abstand der häufigste Grund, weswegen Kinder auf eine entsprechende Förderschule gehen – etwa 160.000 Schüler besuchen in Deutschland eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernbehinderung. Wer genau als lernbehindert gilt, ist schwierig zu definieren. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass Lernbehinderte von ihrem „Lern- und Leistungsvermögen […] von der Altersnorm abweichen und zusätzliche sonderpädagogische Förderung benötigen“33. Allerdings gibt es in der Praxis enorme Abgrenzungsprobleme sowohl zu den „normal“ Lernenden als auch zu anderen Gruppen von Beeinträchtigten wie den sogenannten geistig Behinderten. So trifft das Zitat des Erziehungswissenschaftlers Ulrich Bleidick den Kern des Problems: „Lernbehindert ist, wer eine Schule für Lernbehinderte besucht.“34 Schülern wird eine Lernbehinderung folglich von Außen zugeschrieben. Ohne Förderschulen würde es eine solche Kategorie nicht geben. Diese Kinder sind also ausschließlich am Ort des Lernens, also in der Schule, beeinträchtigt, und das wirkt sich auch auf das Befinden der Kinder aus.
Doch nicht nur das: Die Diagnose des sonderpädagogischen Förderbedarfs ist eine Weichenstellung für das ganze Leben. Das Kind wird auf eine separate Schule gehen, an der es hauptsächlich Menschen treffen wird, die die gleichen Beeinträchtigungen haben. Es wird die Schule nur in seltenen Fellen mit dem Hauptschulabschluss, in der Regel aber ohne Schulabschluss verlassen. Etwa 80 Prozent der Schulabgänger verließen im Jahr 2011 die Förderschule ohne Hauptschulabschluss.35 Nach der Schule arbeiten die meisten in speziellen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, verrichten Hilfsarbeiten oder werden arbeitslos. Insbesondere für sogenannte „geistig Behinderte“ gibt es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kaum Alternativen zur „Werkstatt für Behinderte“.36 Dies führt dazu, dass sich auch nach dem Schulbesuch nur selten Begegnungen zwischen den beiden Gruppen ergeben. Viele Menschen mit Beeinträchtigungen haben kaum die Möglichkeit Kontakte mit Menschen ohne Beeinträchtigungen zu knüpfen. Das heißt auf der anderen Seite aber auch, dass der Umgang mit Beeinträchtigten im Alltag ungewohnt ist. Viele wissen nicht, wie sie sich bei Begegnungen verhalten sollen.
Mit dem Stempel des sonderpädagogischen Förderbedarfs sind diese Menschen also voraussichtlich für ihr ganzes Leben von vielen Bereichen wie dem allgemeinen Bildungs- und Weiterbildungsweg sowie dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Die Institution der Förderschule behindert also die Menschen in ihren Lebenschancen.
Zum Berufserfolg von Schülern mit einer sogenannten Lernbehinderung forscht Urs Haeberlin, emeritierter Professor der Universität Freiburg in der Schweiz. Über die biografischen Folgen des Sonderunterrichts veröffentlichte er 2011 eine Langzeitstudie. 37 Diese ging der Frage nach, ob die spätere berufliche und soziale Situation von Kindern mit einer sogenannten Lernbehinderung durch schulische Integration oder durch separaten Unterricht besser gefördert werden. Die Ergebnisse sind eindeutig: Die Ausbildungs- und Berufschancen für diejenigen, die in separaten Sonderklassen38 unterrichtet wurden, sind schlechter. So sind Ausbildungsabbrüche und Langzeitarbeitslosigkeit für diese Gruppe charakteristisch. Hinzu kommt, dass das Selbstwertgefühl dieser Jungen und Mädchen viel niedriger ist als bei Schülern in einer integrativen Klasse.
Überhaupt leiden Jugendliche, die eine Förderschule besuchen, oft stark unter dem Stempel des Förderschülers. So zeigt beispielsweise Brigitte Schumann, ehemalige Lehrerin und Politikerin, in ihrer empirischen Studie, dass die Förderschule die Schüler sozial isoliert. 39 Oft empfinden sie den Besuch der Förderschule als so ablehnendes Erlebnis, dass sie gar verschweigen, auf welche Schulform sie gehen, um nicht noch weiter ausgegrenzt zu werden. Somit ist es diesen Schülern häufig nicht möglich, ein positives Selbstbild aufzubauen, da das durch die negativen Stigmatisierungen gehemmt wird oder sie diese gar übernehmen. Die eigentlichen Probleme der Lernbehinderung bleiben dabei verschleiert. Denn die große Mehrheit aller Förderschüler kommt aus sozial schwachen Familien und so scheint die Beeinträchtigung mit der sozialen Herkunft einherzugehen. Die Herkunft dieser Kinder beeinträchtigt also ihre Bildungschancen.40
Kinder mit „sonderpädagogischem Förderbedarf “ werden aber auf Förderschulen geschickt mit dem Hinweis: Man könne sie dort besser fördern und besser auf sie eingehen. Doch dies ist nicht mehr als eine Wunschvorstellung, wie das Ergebnis einer Studie des Lernbehindertenpädagogen Hans Wocken zeigt: Schüler erreichen auf einer Förderschule nicht wie erwartet bessere Leistungen, sondern verharren auf dem gleichen Niveau.41 Der geplante Schutzraum ist also nicht mehr als eine Bremszone, die zudem noch in die soziale Isolation führt. Laut Ute Erdsiek-Rave, Kultusministerin von Schleswig-Holstein a.D., führt die Situation der sogenannten Lernbehinderten in Deutschland auf internationaler Ebene zu Kopfschütteln und Unverständnis. Der Tenor auf der Weltbildungskonferenz der UNESCO in Genf 2008 sei gewesen, dass Heterogenität nicht leistungsfeindlich sei und Kinder mit Lernschwierigkeiten Unterstützung, aber keine eigenen Schulen bräuchten. Ihrer Meinung nach ist die Existenz der Förderschulen für Lernbehinderte „in geradezu fahrlässigem Umfang diskriminierend“42. Sie hätten sich zudem zu einem Sammelbecken für sozial Benachteiligte und Migranten entwickelt.43 All diese Ergebnisse sprechen eine Sprache: Förderschulen für Lernbehinderte stehen der Chancengleichheit entgegen und behindern Menschen auf ihrem Lebensweg.
Deutschland in der Grauzone
Schaut man in andere europäische Länder, so findet man Beispiele, in denen es schon Schulsysteme gibt, die keine Selektion zwischen Schülern mit und ohne Beeinträchtigung vornehmen. Die skandinavischen Länder haben in diesem Bereich eine Vorreiterrolle, beispielsweise Norwegen. Dort gehen seit den 1990er-Jahren alle Kinder gemeinsam zur Schule. Allerdings gibt es an einigen Schulen noch Förderklassen. Diese besuchten im Schuljahr 2001/2002 lediglich 1349 Schüler. Eine Ausgrenzung von Menschen mit Beeinträchtigungen fand offensichtlich nur in absoluten Ausnahmefellen statt.
Auch wenn sich das inklusive Schulsystem dort noch nicht vollständig durchsetzen konnte – in den vergangenen Jahren ist die Zahl der Sonderschüler wieder angestiegen – , ist man von Zahlen, wie sie für Deutschland vorliegen, weit entfernt.44
Norwegen kann Deutschland deshalb als Vorbild dienen. Denn dort spiegelt sich das Ergebnis des Schweizer Professors wider: Auch hier hat die Schule für alle dazu geführt, dass Schüler mit Beeinträchtigung häufiger einen Schulabschluss bekommen und zudem leichter den Zugang zur Fachhochschule oder Universität schaffen. Auch das integrative Schulsystem der USA zeigt diese Entwicklung.45
Deutschland hingegen hat sich noch nicht klar für ein System entschieden. Wie man dem Bericht der Kultusministerkonferenz entnehmen