Was bildet ihr uns ein?. Группа авторов
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Das Märchen von einheitlichen Lerngruppen
Dass in Deutschland in einigen Bundesländern noch so stark an den Förderschulen festgehalten wird, liegt u.a. an einer falschen Annahme, auf der das gesamte deutsche Schulsystem aufbaut: Dass Schüler in einheitlichen Lerngruppen optimal lernen können. Dieser Sicht zufolge haben Schüler, die dieselbe Schulart besuchen, auch die gleichen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Schwierigkeiten. Sie können auch die gleichen Sachverhalte in derselben Geschwindigkeit lernen und verstehen. Nur aufgrund dieser Annahme hat die Aufteilung auf verschiedene Schulen Sinn.
Dies ist aber nicht nur in Bezug auf Menschen mit Beeinträchtigungen eine irrige Annahme. Auch auf andere Klassen, die vermeintlich „gleich gut“ sind, trifft sie nicht zu.
Das zeigt sich daran, dass sich Gruppen, egal ob dort die vermeintlich „Besten“ oder „Schlechtesten“ lernen, erneut sortieren und es auch hier wieder „Bessere“ und „Schlechtere“ gibt. Diese Annahme unterstreicht auch, wie sehr unser Schulsystem auf dem Vergleichen von Menschen untereinander aufgebaut ist und nicht die eigene, persönliche und individuelle Entwicklung gesehen und betrachtet wird.
Es kann nie eine Gruppe von Menschen geben, die auf die gleiche Art und Weise in der gleichen Geschwindigkeit lernt und sich weiterentwickelt. Die allseits anerkannten Normen, die festlegen, in welchem Alter man welche Menge an Wissen gesammelt haben muss, erscheinen aus diesem Grund sinnlos und unmöglich einzuhalten.
Die Annahme der homogenen Lerngruppe hat aber zur Folge, dass man nur bei vermeintlich Schwächeren oder Beeinträchtigten davon ausgeht, dass sie individuelle Förderung benötigen. Vielmehr ist es aber so, dass die Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit aller Menschen eine individuelle Förderung und Bildung jedes Einzelnen notwendig macht. Wünschenswert wäre daher, dass in jeder Lerngruppe auf individuelle Bedürfnisse eingegangen wird, so dass sich jeder Mensch bestmöglich entwickeln kann.
Schule und Bildung neu denken
2006 hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen (UN) eine Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verabschiedet. Darin steht unter anderem, dass Menschen mit Beeinträchtigung nicht vom allgemeinen Schulsystem ausgeschlossen werden dürfen. Der entscheidende Punkt wird allerdings im ersten Abschnitt des 24. Artikels gemacht. Dort heißt es: „States Parties recognize the right of persons with disabilities to education. With a view to realizing the right without discrimination and on the basis of equal opportunity, States Parties shall ensure an inclusive education system at all levels and life long learning […].”49 Die UN schreibt in ihrer Konvention also ein sogenanntes inklusives Schulsystem vor. Dies bedeutet, dass Schule und andere Bildungseinrichtungen neu gedacht werden müssen. Denn eine inklusive Schule zeichnet sich besonders durch eine Grundeinstellung aus, die die Individualität jedes Menschen in den Mittelpunkt stellt. Jan-Åke Klasson von der Universität Göteborg hat dazu treffend formuliert: „Inclusion is not about organization, it’s about attitude.“50 Bei Inklusion geht es folglich in erster Linie um die Einstellung den Menschen gegenüber. Für Kinder mit Beeinträchtigung heißt das, dass sie genauso wie alle anderen Jungen und Mädchen einzigartig sind und nicht auf einer separaten Schule lernen müssen.
Auch Deutschland hat dieses Übereinkommen unterstützt und ratifiziert. Allerdings wurde das Wort „inclusive“ mit „integrativ“ übersetzt. Das ist nicht nur ein Übersetzungsfehler, sondern stellt tatsächlich eine inhaltliche Veränderung der Konvention dar.
Anfang der 1990er-Jahre wurde auf einer Konferenz der UNESCO erstmals bewusst das Wort „inclusion“ statt „integration“ verwendet.51 Damit wurde das Schulkonzept der Inklusion ins Zentrum gerückt. Diese entwickelte sich zwar aus dem pädagogischen Konzept der Integration, der entscheidende Unterschied ist aber die Grundeinstellung: dass jeder Mensch einzigartig ist und individuelle Bedürfnisse hat. Durch die Integration in eine Gruppe hingegen, wie es das deutsche Gesetz vorschreibt, wird lediglich eine Gruppe in eine andere Gruppe eingegliedert – also in diesem Fall die Personen mit Beeinträchtigungen in die der „normal“ Lernenden. Es gibt also ein bestehendes System, in das die Personen, die vormals nicht zu diesem System gehörten, integriert werden. Die Einstellung verändert sich also nicht; stattdessen werden zur Integration Schulbegleiter eingesetzt, die die Lernenden den ganzen Tag oder zumindest abschnittsweise in der „normalen“ Schule begleiten. Ein inklusives System zu schaffen, würde hingegen bedeuten, Schule und andere Bildungseinrichtungen vollkommen neu zu denken. Dabei müsste man von vornherein davon ausgehen, dass alle Menschen in diesem System ihren Platz haben. Anders gesagt: Es gebe dann barrierefreie Schulen – und damit sind nicht nur die Gebäude gemeint: In diesem Konzept müssten unterschiedlich qualifizierte Menschen gemeinsam arbeiten, damit allen Schülern die für sie bestmögliche Entwicklung ermöglicht wird. Also bedürfte es eines anderen pädagogischen Teams in der Schule. Entsprechend müsste das Thema Inklusion zu einem festen Bestandteil des Lehramtsstudiums werden. Wichtig dabei wäre auch, dass methodisch-didaktisch eine andere Unterrichtsform stattfindet: Der Frontalunterricht, in dem alle Kinder an der gleichen Aufgabe mit dem gleichen Schwierigkeitsgrad arbeiten, ist für eine inklusive Schule nicht geeignet. Es muss vielmehr auf die Bedürfnisse der einzelnen Schüler eingegangen und im Hinblick auf Schwierigkeit und Geschwindigkeit innerhalb einer Schulklasse differenziert werden. Nicht die Schüler müssen sich der Schule anpassen, sondern die Schule muss sich nach ihren Bedürfnissen richten und sich auf sie einstellen.
Die Übersetzung von Inklusion durch Integration zeigt jedoch, dass man in Deutschland nicht bereit ist, Vielfalt als etwas Selbstverständliches und Bereicherndes zu begreifen und Menschen nicht in Gruppen einzuteilen. Stattdessen schafft man sich mit der ungenauen Übersetzung eine Hintertür, um öffentlich sein Gesicht zu wahren – denn schließlich will man auch nicht das Land sein, das solch eine Konvention nicht unterschrieben hat.
Solange wir also noch Menschen mit Beeinträchtigungen als die „Anderen“, die „Hilfsbedürftigen“ sehen und davon ausgehen, dass diese Menschen grundsätzlich anders sind als der Rest der Gesellschaft, wird sich an den Organisationsformen von Schule und Bildung und damit auch in der Gesellschaft nichts ändern. Da hilft auch nicht der Artikel 8 der UN-Konvention52, der mit dem Titel „Bewusstseinsbildung“ überschrieben ist und die Verpflichtung der Staaten beschreibt, Vorurteile, Klischees und Stereotypen in der Gesellschaft abzubauen und durch öffentlichkeitswirksame Kampagnen für die Akzeptanz von Unterschiedlichkeit zu werben.
Mit der jetzigen Einstellung in Deutschland, dass beeinträchtigte Menschen in erster Linie Hilfe und Pflege bedürfen, verfestigt Deutschland die Vorurteile, die sich so in der Gesellschaft halten können.
Nur die Integration von Menschen mit Beeinträchtigung in Schulen zu fordern, reicht also nicht aus. Wir brauchen einen neuen, einen veränderten Leistungsbegriff, der individuelle Leistungen und Fähigkeiten anerkennt und nicht nur auf dem Vergleich mit anderen Menschen aufbaut, und eine daraus resultierende andere Lern- und Bildungskultur.
Denn bei Inklusion geht es um mehr als nur die Möglichkeit, eine Regelschule zu besuchen. Es ist die positive Haltung einer Gesellschaft gegenüber Vielfalt und Unterschiedlichkeit.
Gerade durch die UN-Konvention bietet sich die Gelegenheit, ein Schul- und Bildungssystem mit einer solchen Grundlage auch in Deutschland endlich durchzusetzen. Es sind bereits fünf Jahre seit der Konvention vergangen – wir sollten nicht noch