Sklavenjagd. Tomàs de Torres

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Sklavenjagd - Tomàs de Torres

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»Es ist noch nicht mal Mittag!«

      Er zuckte mit den Schultern und stellte eine entschuldigende Miene zur Schau. »Du weißt ja, wie das ist mit einer Premiere – es gibt eine Menge vorzubereiten …«

      Er war bereits zur Hälfte im Treppenhaus, als er sich noch einmal umwandte.

      »Danach ist eine kleine Feier geplant, nur für das Ensemble und ein paar wichtige Leute – du brauchst also nicht im Theater auf mich zu warten! Ich weiß nicht, wann ich nach Hause komme!«

      Die Tür schlug hinter ihm zu – neben demjenigen einer Totenglocke der bedrückendste Laut, den Dolores kannte.

      Gegen halb zwei holte sie der Hunger wieder ein. Die Zwischenzeit – nicht weniger als drei Stunden, wie sie ohne große Überraschung feststellte, als sie sich erhob – hatte sie beinahe reglos zugebracht, zusammengesunken am Küchentisch, so, wie Jorge sie zurückgelassen hatte. Nur ihre Gedanken waren währenddessen umhergeschweift, waren durch jene endlose Landschaft von Zeit und Raum geglitten, manchmal auch gejagt, die sich im Geist eines Menschen auftat. Szenen aus ihrer frühesten Kindheit, des Glücks und der Geborgenheit, wechselten sich ab mit späteren, solchen des Schreckens und der Verzweiflung. Sie wusste, dass der Schlüssel – oder zumindest einer der Schlüssel – zu ihren Problemen in ihrer Kindheit zu suchen war; in einem Erlebnis, das so tief in ihrem Unterbewussten verschüttet war, dort verwahrt, behütet wurde, dass nicht einmal die Psychologen, die sich im Laufe der Jahre um sie bemüht hatten, imstande gewesen waren, es an die Oberfläche zu bringen und es damit zu entschärfen, wie ein Feuerwerker eine Fliegerbombe entschärft – sie ist dann zwar noch vorhanden, für jeden sichtbar, doch sie kann niemandem mehr schaden.

      Und so war Dolores dankbar gewesen für den Weckruf ihres Magens. Sie zog ihre Schuhe an, steckte den Schlüsselbund in die Handtasche und machte sich zu Fuß auf den Weg.

      Zu Beginn hielt sie sich ängstlich in der Deckung der Mauern der Häuser, wie sie es früher, vor ihrer Therapie, getan hatte, doch bald erkannte sie erleichtert, dass ihr das Überqueren von Straßen oder auch kleineren Plätzen keine Schwierigkeiten bereitete. Der Rückfall in der vergangenen Nacht – sie scheute sich, das Wort »Panikattacke« auch nur in Gedanken zu verwenden, als würde sein Gebrauch alle Dämonen der Vergangenheit wieder heraufbeschwören – schien ein einmaliger »Ausrutscher« gewesen zu sein, bedingt durch ihre im wahrsten Sinne des Wortes mörderische Anspannung.

      Schließlich aß sie in einem Restaurant, nur wenige Straßen weiter, das sie aus der Zeit kannte, als Teresa hier gewohnt hatte. Später streifte sie ein wenig durch die Stadt auf der Suche nach Zerstreuung. Die Zeit bis zum Abend, bis zum Beginn der Premiere, war lang, und Dolores fürchtete, dass der Abend selbst noch länger werden würde.

      Irgendwann fand sie sich auf der Plaza vor der Kirche von Santa María la Mayor wieder, wo einige Mütter sich unterhielten, während sie Kinderwagen hin- und herschoben. Eine Handvoll Touristen fotografierte die eindrucksvolle Renaissance-Fassade des fünfhundert Jahre alten Gotteshauses. Dolores setzte sich auf eine Bank und sah dem Treiben eine Weile zu, bis sich ihr ein Paar näherte, eine Digitalkamera fragend ausgestreckt. Beide waren höchstens 25 Jahre alt, sie blond und hochgewachsen, ihre Finger mit mehreren Ringen geschmückt, die in der Nachmittagssonne glitzerten. Der Mann hatte dunkle, fast schwarze Haare und einen Kinnbart, der Dolores unwillkürlich an einen Ziegenbock erinnerte. Er redete sie in einer hart klingenden Sprache an, die sich irgendwie osteuropäisch anhörte. Dolores verstand die Worte nicht, jedoch das Lächeln und die Gesten, und sie lächelte zurück. Der Mann zeigte ihr, wie sie die Kamera auslöste, und sie schoss einige Bilder des Paares vor dem Hintergrund des dreigiebligen Frontispizes der Kirche sowie des auch aus der Ferne überaus eindrucksvollen Peña de los Enamorados, des »Felsens der Verliebten«, dessen doppelte, zur Seite geneigte Kuppe tatsächlich an ein Paar erinnerte, das im Begriff war, auf sein Liebeslager zu sinken.

      Als sie den Fotoapparat zurückgab, bedankten sich die beiden mit freundlichem Lachen, und ehe Dolores das Vorhaben des Mannes erahnte, hatte dieser auch ein Bild von ihr gemacht. Dann schwenkte er zum Abschied immer noch lachend die Kamera, und beide wandten sich ab und zogen davon.

      Dolores’ Lächeln war in dem Moment, als die elektronische Simulation eines Klickens ertönt war, eingefroren, denn dieser – wie sie es empfand – Einbruch in ihre Intimsphäre irritierte sie zutiefst. Sie hasste es, abgelichtet zu werden, nicht nur, weil sie sich für unansehnlich hielt. In gewisser Weise hatte jemand, der ihr Bild besaß, der damit tun konnte, was ihm beliebte, eine Art von Macht über sie, beinahe so, wie es einige Naturvölker glaubten. Es war wie eine – wenn auch schwache – Form des Missbrauchs ihres Körpers. Die Beziehung mit dem Freund vor Jorge war letztlich daran zerbrochen, dass dieser darauf bestanden hatte, sie nackt zu fotografieren, nicht nur ihre Brüste oder ihre Scham, wie Dolores schließlich widerstrebend als Kompromiss angeboten hatte, sondern in Verbindung mit ihrem Gesicht. Hätte sie zugestimmt, so hätte sich ein Teil ihres Selbst ihm hilflos ausgeliefert, seiner Willkür unterworfen.

      Sie verließ den Kirchenvorplatz ebenfalls, plötzlich wieder von Unruhe geplagt, und beschloss nach einigem Herumwandern, in das Apartment zurückzukehren, vorher jedoch noch einige Einkäufe zu tätigen. Wenn sie am nächsten Morgen aufbrach, wollte sie den Kühlschrank nicht so leer hinterlassen, wie sie ihn vorgefunden hatte.

      Das Teatro Municipal Torcal, in dem die Premiere stattfand, war ein in den Dreißigerjahren im Stil des Art déco errichteter Bau, der Parallelen, rechte Winkel und Symmetrien zum alleinigen Prinzip zu erheben schien. Dolores hasste diese kalte und leidenschaftslose, schier unmenschliche Form der Architektur, bei der sie stets nach etwas suchte, das sie nicht finden konnte. Sie bevorzugte barocke Verzierungen; Türmchen, Erker und Säulen mit geschmückten Kapitellen, die ihr eine beinahe menschliche Wärme vermittelten. Auch die maurische Architektur der Alhambra oder der Moscheen in Córdoba und Sevilla, die so verschwenderisch mit Stuck, Mosaiken und bemalten Fliesen prunkten, liebte sie, und wenn es etwas gab, das irgendwann zu sehen sie sich sehnte – nicht in der zweidimensionalen Scheinrealität des Fernsehapparats, sondern in der ganzen eindrucksvollen Majestät ihrer Wirklichkeit –, dann waren es diese beinahe magischen Orte. Doch wahrscheinlich würde sie niemals den Mut dazu aufbringen, ihre zu tief sitzenden Ängste niemals überwinden.

       Du weißt ja gar nicht, was Leben heißt!

      Dolores schüttelte unwillig den Kopf und betrat das Gebäude. Sie hatte ein Ticket für eine der letzten Reihen gekauft, im Schutz der Rückwand und in beruhigender Nähe des Ganges. Das Stück, das aufgeführt wurde, stammte von einem jungen spanischen Autor, dessen Name Dolores sofort, nachdem sie ihn auf dem Plakat gelesen hatte, wieder entfallen war. Es hieß »Dreisamkeit«, und dieser Titel gab auch gleichzeitig die Quintessenz des Inhalts wieder. Es ging um ein schwules Paar, dessen eine Hälfte von einer Frau verfolgt und schließlich verführt wurde, was zu Spannungen zwischen den beiden Männern und schlussendlich zu ihrer Trennung führte. Jorge mimte nicht etwa einen der beiden Homosexuellen; er spielte den Bruder der Frau, der nur ein paar wenige Auftritte hatte, die er sogar für Dolores’ ungeschliffenen Geschmack, was modernes Theater anbetraf, ein wenig zu pompös absolvierte. An einer Stelle erntete er sogar einige verhaltene, unfreiwillige Lacher, die ihn offensichtlich dazu verleiteten, seinen Abgang noch hastiger zu gestalten, als vom Regisseur ohnehin vorgesehen. In diesem Augenblick war Dolores froh, dass aus dem erträumten Abend zu zweit nichts geworden war, denn sie wusste, dass er die erlittene Schmach, das ihm zugefügte Unrecht, dann an ihr ausgelassen hätte.

      Ansonsten glitt das Geschehen auf der Bühne mehr oder weniger an ihr vorbei bis zum Höhepunkt des Stücks, nämlich der entscheidenden Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern. Derjenige, der sich in die Frau verliebt hatte – also der »männliche Part« des Paars –, ärgerte sich zunehmend über die Unfähigkeit seines Partners, Entscheidungen zu treffen, und hielt ihm deshalb eine regelrechte Standpauke. Bereits bei den ersten Worten dieses Monologs ruckte

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