Bahnfahring. Thomas C. Breuer
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Jetzt vereinigt sich die Trasse mit der, die von Vitznau herauf eilt. Zur besseren Unterscheidung tragen die Waggons ein knalliges Rot, eine nette Geste. Nun aber: Rigi-Kulm. Hat sich was mit Vierwaldstätter See, bei den Schweizern liegt die Betonung übrigens auf dem „stätter“. Ein Urschweizer Erlebnis wird das trotzdem nicht, das einhergehen könnte mit tiefgreifenden Erkenntnissen über die Befindlichkeit der nationalen Seele. Das Klima lädt einfach nicht zum Klippensitzen ein, nicht einmal zu weitschweifenden Gedanken. Es ist so kalt, dass ich mich mit dem Händetrockner in der Herrentoilette aufwärme. Draußen verhöhnt mich ein Gruyère-Werbeplakat: „Fondue gäbt e gueti Luune!“ Fondue, um zehn Uhr morgens, na lecker. Das ganze Tal ist ein verdammtes Fondue. Drum herum muss die Hölle los sein, ein unglaubliches Gebimmel, mittlerweile ist die Suppe dermaßen dicht, dass sie nicht einmal mehr von den schwarz-weiß gescheckten Holsteinern durchdrungen wird. Das Farbmuster habe ich in einem der wenigen lichten Momente erkennen können.
Längst fühle ich mich wie ein Charakter eines Thrillers von David Lindsay: „Er war der Mittelpunkt, ja mehr noch, er war die eigentliche Natur und Substanz des Nebels.“ Auf der Hotelterrasse soll es sogar Schaumelker geben, die ich schon gerne gesehen hätte bei der Verrichtung ihres Handwerks. Mit demselben Zugführer fahre ich wieder zu Tal, 20 Minuten später. Er hat ein kleines Radio dabei, hört Rap, was nicht so recht zu dem recht angegrauten Herrn passen mag. Was noch weniger zusammen passt: Berge und ich. Sollen sie doch das nächste Mal zu mir kommen, wenn sie was wollen. Vielleicht muss ich einfach der Wahrheit ins Auge sehen: Mir geht jegliches Talent zum Reisen ab. Mark Twain und Victor Hugo, die haben das recht passabel hingekriegt mit der verdammten Rigi-Bahn, und das ist schon ein paar Jährchen her. Twain schrieb: „Als ich noch ein Knabe war, pflegte ich die Treppengeländer hinunterzurutschen und ich fand, dass es recht lustig war. Treppengeländer mit einer Lokomotive hinunterzurutschen kann einem aber Schauer über den Rücken jagen.“ Ich würde in dieser Brühe garantiert nicht mal den Knauf am Ende des Geländers erkennen. Örtliche Tourismusveranstalter preisen in ihrer „Vorschau für Romantiker“: »Auf den Spuren von Mark Twain.« Als Romantiker ist mir der Herr nicht in Erinnerung. Victor Hugo hat die Weltöffentlichkeit davon in Kenntnis gesetzt, er habe einsam auf dem Rigi-Gipfel „une jolie petite fleur“ für seine Didine gepflückt. Derlei Glücksmomente sind mir nicht vergönnt, dazu fehlen Zeit, Mittel und eine Didine. Tierfilmer brauchen halbe Ewigkeiten, um jenen Moment zu erwischen, da der Luchs im Jura das Zicklein reißt und der Bauer den Luchs, sie verfügen über genau die Engelsgeduld, die mir abgeht.
Mark Twain benötigte allein, d. h. mit seinem Reisemarschall, schon mehrere Tage für den Aufstieg und den berühmten Sonnenaufgang hatte er nicht weniger als zweimal verschlafen. Nebel bekam er gratis dazu, als Spezialität des Hauses sozusagen. Wir werden ja lediglich mit dem Endergebnis der Bemühungen konfrontiert. Die Berge und ich, wir schmieden keine Pläne für die Zukunft, so viel steht schon mal fest, da bin ich rigide. Das Berglerische hat in der Eidgenossenschaft ohnehin etwas Obsessives: Mit der Toblerone fängt es an, jedes Stück eine kleine Spitze. Hörnchen oder auch Croissants müssen sich Gipfeli nennen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Nicht zufällig hat sich der Schweizer stets in der Raumfahrt engagiert, auch an den aktuellen Mars-Projekten der NASA ist er maßgeblich beteiligt. Extraterrestrische Aktivitäten sind allemal tröstlicher als die übliche irdische Pein. Dass der erste Weltumrunder im Ballon ein Schweizer war, gehorcht einer gewissen Logik: Wo der horizontalen Ausbreitung rasch Grenzen gesetzt sind, weicht man in die Vertikale aus. Laut Statistik existieren in der Schweiz 160.000 Fahrstühle, im vergleichsweise erheblich größeren Deutschland „nur“ 575.000. Der Slogan einer Bergbahn verheißt: „Willkommen bei den oberen Dreitausend.“ Meine Initiative zur Erhaltung der Bergwelt wird in Zukunft darin bestehen, dass ich sie ab sofort in Ruhe lasse. Am Kiosk in Arth-Goldau bekomme ich später entgangene Panoramen in den schillerndsten Farben als Druckwerk serviert, in diesem Fall in der neuesten Ausgabe des Magazins Berge. Darin wird ein gewisser Friedrich Wilhelm Ritter von Hackländer zitiert, der 1852 behauptet hat: „Man muss auf dem Rigi gewesen sein, um in Gesellschaft von Reisen sprechen zu dürfen.“ Ja was! Und wenn mich dieser Berg eines gelehrt hat, dann, dass es die Rigi heißt, Herr! Ritter! von! Das Tram, Der Risotto. Das Heidi. Das Bikini.
Auf der Talfahrt kommt augenblicklich die Sonne raus, als hätte sie nur hinter dem Felsen gelauert, ja, fürwahr, sie lacht, wie man so schön sagt, und zwar: mich aus. Rigi gaga. Regina montium – Königin der Berge? Ich bin kein Royalist. Vielleicht liegt darin das Problem. Das Bahnhofsbuffet von Arth-Goldau entschädigt für vieles, ein wenig Art-Déco klingt an. Ich steige in den Zug nach Zürich, auf dem Nachbargleis setzt sich der nach Luzern in Bewegung, eine Zeitlang zotteln wir nebeneinander her, dann biegt der Luzerner zur Westseite des Sees ab, der Zürcher bleibt auf der Ostseite, sie liefern sich ein Wettrennen über einige Kilometer Luftlinie hinweg, bis der Luzerner plötzlich von einem Hügel verschluckt wird. Die Bergspitzen im Hintergrund sind nun deutlich zu erkennen. Rigi, kiss my ass, und was die Toblerone angeht: Die gehört längst Philip Morris.
Gornergrat: Nebel, Rigi: Nebel. Da ich nun schon in der Innerschweiz bin, sollte ich vielleicht eine unverfänglichere Route probieren. Vielleicht ist Engelberg ein blicksicheres Ziel. Dabei hilft mir das Tagesbillett der SBB. Es soll Rentner geben, die ihre Tageskarte bis zum Anschlag herunterfahren und deshalb morgens um fünf gestiefelt und gespornt am Zürcher Hauptbahnhof in den Zug hüpfen, ein paar Stunden kreuz und quer durchs Land streifen, dort einkehren, wo es das aktuell schweizweit billigste Tagesessen gibt, das sie mit detektivischer Akribie im Internet aufgespürt haben. (Gibt es wahrscheinlich längst als App: Meat XXL.) Sie verschmähen weder Busse noch Schiffe und kehren gegen Mitternacht ermattet wieder in die Agglo Zürich zurück. Von der Hand zu weisen ist diese Theorie nicht, die Züge am Montagmorgen sind hoffnungslos überfüllt und das Durchschnittsalter biblisch. Die Massen produzieren natürlich Verspätungen, überall ist es zunächst voll, ich bin einer von zwei Millionen Passagieren im Jahr. Aber zum Glück möchte heute außer einem Khaki-Pensionär niemand die ganze Strecke bis zum bitteren Ende fahren. Der Mann hat allerdings gerade zu seinem geschätzt 105. Geburtstag ein Natel bekommen und lässt es eine halbe Stunde lang fröhlich fiepen, bis ihn ein giftiger Blick meinerseits zum Schweigen bringt. Vorerst. Handy sollte man die Quälgeister in der Schweiz nicht nennen, so heißt bereits ein Spülmittel.
Im Kanton Obwalden wurde vor 30 Jahren – Ohren gespitzt – der erste Luchs in der Schweiz wieder angesiedelt, teilt der aktuelle Tagi mit. Und: „Ein 27-jähriger Obwaldner hat in Neapel einen Trickbetrüger aus Rache niedergestochen und schwer verletzt. Der Händler hatte dem Schweizer Touristen eine Natel-Attrappe angedreht.“ Bin ich unter die Wilden geraten? Ist das Handy meines nervtötenden Mitreisenden womöglich eine Fälschung? Die raubtierfreundlichsten Schweizer, hat jüngst eine Umfrage ergeben, sind die italienischsprachigen: Mit Zweidrittel-Mehrheiten heißen sie Luchs, Wolf und Bär willkommen, was daran liegt, dass sie aus italienischen Quellen mehr erfahren über das Verhalten von Wolf und Bär, die in Italien schon länger wieder heimisch sind. Ähnlich wie beim Luchs in der Schweiz, schreibt meine übliche Quelle, hat sich beim Italiener auch bei anderen Raubtieren ein gewisser Gewöhnungseffekt eingestellt. Wobei sich natürlich die Frage aufdrängt, wer dabei an wen gewöhnt werden muss.
In Odermatt wird der Zug getrennt und in zwei Schüben mit Zahnrädern bergauf geschickt: Einklinken in die Zahnstange und los. Steiler steigt eine Boeing beim Start auch nicht. Die internationalen Nummernschilder auf der benachbarten Straße lassen Schlimmes befürchten.