Jimi Hendrix. Charles R Cross

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Jimi Hendrix - Charles R Cross

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Familien, Jimi habe regelmäßig bei ihnen zu Mittag und zu Abend gegessen. Zu Hause bei seinem Vater war Jimi damals kaum anzutreffen, vielmehr lebte er schon aus praktischen Gründen von der Güte der anderen Mitglieder der afroamerikanischen Gemeinschaft. Der Beitrag der Wheelers und vieler anderer zu Jimis Wohlergehen darf nicht unterschätzt werden. Sie ermöglichten ihm buchstäblich das Überleben.

      Keine Familie hat jedoch über die Jahre mehr für Jimi Hendrix getan als die der Hardings. Auntie Doortie, wie er Dorothy Harding nannte, hatte Lucille während der Wehen beigestanden, hatte Jimis Windeln gewechselt und sich ständig versichert, dass es ihm gut ging. Jimi bezeichnete Dorothy Harding als seine Tante, aber im Vergleich zu den anderen Frauen in seiner Umgebung, einschließlich seiner leiblichen Mutter, war sie vielleicht am ehesten so etwas wie eine Mutter für ihn. Wenn Auntie Doortie Jimi eine Weile lang nicht sah, spürte sie Al in einer seiner Stammkneipen auf und beschimpfte ihn, was regelmäßig vorkam. Sie war die einzige Frau, von der sich Al diese Art von Kritik gefallen ließ.

      Harding zog als allein erziehende Mutter neun eigene Kinder groß und ging außerdem gleichzeitig zwei verschiedenen Jobs nach. Ab 1955 arbeitete sie tagsüber bei Boeing an der Nietmaschine, eilte dann nach Hause, wo sie für ihre Kinder kochte, bevor sie zu ihrem zweiten Job als Hausmädchen bei einer wohlhabenden weißen Familie ging. Die Familie Harding bewohnte eine Dreizimmerwohnung im Rainier Vista, und während der fünfundzwanzig Jahre, die sie dort lebte, schlief Dorothy auf dem Sofa im Wohnzimmer und überließ ihren Kindern die beiden Schlafzimmer. Obwohl sie hart zu kämpfen hatte, achtete Dorothy stets darauf, dass ihre Kinder genug zu essen bekamen und sauber aussahen. Sonntags besuchten sie alle gemeinsam die Saint Edward’s Catholic Church. Oft wurden sie von Jimi begleitet, dem dieses Ritual sehr zu gefallen schien, wenn auch vielleicht nur, weil ihm der Kirchgang mit den anderen das Gefühl gab, zu einer echten Familie zu gehören.

      Die älteren Harding-Söhne übernahmen bei zahlreichen Gelegenheiten die Rolle als Jimis Beschützer. „Es gab eine stille Übereinkunft, dass ihn die anderen in Ruhe ließen, wegen uns“, erinnert sich Melvin Harding. „Er war kein Kämpfer. Er war still und hatte ein Lächeln, das jeden weich machte.“ Jimi war introvertiert, wirkte sogar niedergeschlagen. „Er war extrem sensibel“, meint Ebony Harding. „Er hat nie gesagt, dass er seine Mom oder seinen Dad vermisst, aber man hat’s ihm angemerkt. Er hat viel geweint.“

      An einem Abend bei den Hardings machte Jimi eine Bemerkung, die allen Anwesenden – welche die Geschichte übereinstimmend erzählen – derart prophetisch erschien, dass sie übersinnliche Kräfte am Werk vermuteten. „Er sagte zu mir: ‚Ich werde weit, weit weg gehen. Und ich werde reich und berühmt sein, und dann sind alle neidisch auf mich‘“, erinnert sich Dorothy Harding. „Er sagte, er würde das Land verlassen und nie wieder zurückkommen. Darauf meinte ich, er dürfe so was nicht machen und mich hier allein lassen. Er antwortete: ‚Nein, Auntie Doortie, dich nehm ich mit.‘“ An dem Abend lachten die Harding-Kinder Jimi wegen der Theatralik, mit der er das verkündete, aus.

      In den Gutenachtgeschichten, die sich die Harding-Kinder untereinander erzählten, gab es einen weiteren prophetischen Hinweis. Obwohl Jimi die Harding-Söhne immer am meisten bewundert hatte, sollte Shirley den größten Einfluss auf seine Zukunft haben. Als eines der älteren Mädchen war sie dafür verantwortlich, ihre jüngeren Geschwister zu Bett zu bringen. Sie deckte alle zu, dämpfte das Licht und saß dann im Flur zwischen den beiden Schlafzimmern. Von dieser Position aus gab sie allabendlich eine Vorstellung, die Jimi außerordentlich faszinierte. Sie erzählte Geschichten, „erfundene Geschichten“, wie Jimi meinte, und er war verrückt nach ihnen.

      In den Gutenachtgeschichten kamen stets drei Figuren vor: Bonita, Audrey und Roy. Ihre Namen änderten sich nie, obwohl sich ihre Charaktere Nacht für Nacht weiterentwickelten. „Manchmal gemahnten sie an die Fabeln von Äsop“, erinnert sich Ebony Harding, „manchmal gab es eine moralische Lehre.“ Wenn jemand an einem Tag besonders freundlich gewesen war, erzählte Shirley die Geschichte so, dass alle wussten, dass sie von dieser Person handelte. Wenn jemand etwas falsch gemacht hatte, wurde er oder sie als Bonita, Audrey oder Roy in die Geschichte eingebaut, die Missetat erzählt und erklärt. Jimi gab regelmäßig das Rohmaterial für die Figur Roy ab. Die Wohnung der Hardings sauber zu halten war eine niemals endende Plackerei, und Jimi übernahm so oft die Aufgabe, die Küche zu fegen, dass es auffiel und er in den Geschichten zu „Roy, dem Besenboy“, wurde. Shirley ließ Roy, Bonita und Audrey viele Erfolge und Niederlagen erleben, aber keine machte der Familie – und vor allem Jimi – mehr Spaß als die Geschichte von Roy, der einmal als Gitarrist groß herauskommen würde. „Roy wurde reich und berühmt mit seiner Besengitarre“, erzählte Shirley die Geschichte. „Von überall her kamen Leute, um ihn spielen zu hören. Er wurde so reich, dass er in einem langen schwarzen Cadillac herumfuhr. Er war immer glücklich. Er hatte haufenweise Geld, aber er hat immer noch die Küche geputzt und den Boden gefegt und das Geschirr abgewaschen.“ Und das war die Moral von der Geschichte: Auch wenn man reich und berühmt war, musste man trotzdem daran denken, den Boden zu fegen. „Roy war reich und berühmt, und er hatte seinen Cadillac“, fuhr sie fort. „Er konnte überall in der Welt umherreisen. Aber so ein Junge war Roy nicht – er fuhr raus in die Welt, aber er kam immer wieder in seinem Cadillac nach Hause zurück. Er fuhr zum Rainier Vista und hupte laut, und alle Kinder kamen herausgerannt und hatten ihn lieb.“ Spätestens an dieser Stelle der Erzählung war Jimi sicher, dass die Geschichte von seiner Zukunft handelte, die noch in weiter Ferne lag und ihm wie ein wunderbarer Traum erschien.

      Kapitel fünf

      Johnny Guitar

      Seattle, Washington

      März 1955 bis 1958

      Held: „Der Name ist Johnny. Johnny Guitar.“

      Erster Schurke: „Das ist kein Name.“

      Zweiter Schurke: „Kopf: Ich bring sie um, Mister; Zahl: Sie dürfen ihr etwas vorspielen.“

      — aus dem Film Johnny Guitar

      Im Frühjahr 1955 wurde Jimi Hendrix mit der sechsten Klasse der Leschi Elementary School fotografiert. Das Klassenfoto mit sechsundvierzig Kindern hätte auch als Postkarte der Vereinten Nationen herhalten können: In seiner Klasse waren jeweils gleich viele afroamerikanische, weiße und Kinder amerikanisch-asiatischer Abstammung. „Es waren eine idyllische Zeit und ein idyllischer Ort“, erinnert sich Jimmy Williams. „Als würde Hautfarbe keine Rolle spielen. Wir hatten das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein.“ Auf dem Foto sieht man Jimi an, dass er sich darüber amüsiert, wie die Erwachsenen versuchen, so viele Kinder zum Stillhalten zu bewegen. Jimi ging in jenem Frühjahr mit der Durchschnittsnote „Drei“ von der Leschi ab und besuchte von nun an die Mittelschule.

      Sein Familienleben hatte jedoch ganz und gar nichts Durchschnittliches. Am 30. März 1955 verzichteten Al und Lucille bei einer Anhörung im King County Courthouse – wo sie auch geheiratet hatten – auf sämtliche elterliche Rechte an Joe, Kathy, Pamela und Alfred Hendrix. Die Anhörung war eine Formalität, denn die Kinder waren längst bei Pflegeeltern untergebracht, dennoch verzichteten Al und Lucille erst mit der Unterzeichnung dieses Dokuments dauer­haft auf „alle und jegliche elterlichen Rechte und Interessen an und gegen­über den Kindern“. Delores Hall sagte, Lucille sei „am Boden zerstört“ gewesen, als sie vor Gericht eingestehen musste, als Mutter versagt zu haben. Auch in Hinblick auf die spätere Behauptung von Al Hendrix, er sei gar nicht Vater dieser Kinder, war die Anhörung bemerkenswert. Vor Gericht bekannte er sich damals in allen vier Fällen zu seiner Vaterschaft.

      Als die gerichtliche Anhörung stattfand, hatte Jimis Situation zu Hause einen neuen Tiefpunkt erreicht. Al hatte seinen Job verloren und lag mit den Ratenzahlungen zurück. Die Zustände in der Wohnung verschlimmerten sich derart, dass selbst die Besuche der verschiedenen Tanten Schmutz und Verfall nicht mehr aufzuhalten vermochten. Als der Footballtrainer

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