Hinter der Maske - Die Autobiografie. Paul Stanley
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Meine Schwester, mein Dad und ich im Inwood Hill Park in der Nähe unseres Apartments, Uptown Manhattan, 1952.
Mit Mom und Dad im Lake Mohegan, New York.
Oberste Reihe, dritter von links: Meine Baseballspieler-Pose auf dem Klassenfoto der ersten Klasse. PS 98, 1958.
Kurz bevor ich mit acht in die dritte Klasse kam, übersiedelte meine Familie von Manhattan in ein jüdisches Arbeiter-Wohngebiet am hinteren Ende von Queens. So etwas hatte ich noch nie gesehen – Bäume umrandeten den Block und wuchsen direkt aus dem Gehsteig heraus. Und gegenüber an der Straße lag eine Baumschule, die einen ganzen Block einnahm. Anfangs dachte ich, dass da ein Förster herumstreifen müsste. Oder Lassie.
Die meisten Erwachsenen aus der Gegend fuhren zum Arbeiten nach Manhattan, aber dennoch funktionierte die Nachbarschaft wie in einer Kleinstadt mitten im Nirgendwo. Auf einer Länge von nur ein paar Blocks, die von Bäumen gesäumt waren, befanden sich eine Bücherei, ein Postamt, ein Metzger, eine Bäckerei, ein Schuhgeschäft, ein Lebensmittelmarkt, ein Spielzeugladen, ein Haushalts- und Eisenwarengeschäft, eine Pizzeria und ein Eissalon. Allerdings fiel mir auf, dass etwas fehlte: ein Plattenladen.
Die meisten Gebäude waren zweigeschossig. Manche waren als Doppelhäuser gebaut, andere – so wie unseres – waren in vier Apartments unterteilt, wovon sich zwei im Parterre (mitsamt straßenseitigem Garten) und zwei im ersten Stock befanden. Ich teilte mir immer noch ein Zimmer mit meiner Schwester Julia, aber meine Eltern hatten nun endlich ihr eigenes Schlafzimmer. Es lebten auch viele Kinder in der Gegend.
Meine neue Schule war die PS 164. In den Schulbänken saßen jeweils zwei Kinder. Ich betete darum, dass mich die Lehrer auf die rechte Seite des Pults setzen würden, damit meine Banknachbarn mein linkes Ohr – mein gutes – zu Gesicht bekämen. Ich wollte nicht, dass jemand das, was ich für meine schlechte Seite hielt, sehen konnte – mal ganz abgesehen davon, dass ich niemanden hören konnte, der mich von meiner gehörlosen Seite ansprach.
Irgendwann während des ersten Schultags rief mich eine Lehrerin namens Mrs. Sondike zum Lehrerpult, um mein Ohr zu begutachten.
Oh Gott, bitte tun Sie das nicht.
„Lass mich einen Blick auf dein Ohr werfen“, sagte sie.
Nein, nein, nein!
Sie nahm mich in Augenschein wie ein wissenschaftliches Präparat.
Es war mein schlimmster Albtraum. Ich war wie versteinert. Völlig am Boden zerstört.
Was soll ich bloß machen?
Voller Verzweiflung wollte ich meinen Mund aufmachen und sagen: „Tun sie das nicht.“ Aber ich blieb stumm. Ich atmete tief ein und wartete darauf, dass es vorbei war.
Wenn ich es ignoriere, dann existiert es nicht. Behalte deinen Schmerz für dich!
Kurze Zeit nach diesem Vorfall ging ich mit meinem Vater spazieren.
„Dad, findest du, dass ich gut aussehe?“
Er wirkte überrascht. Er blieb stehen und senkte seinen Blick.
„Nun“, sagte er, „du siehst nicht übel aus.“
Danke.
Zehn Punkte für meinen Dad! Das war genau die Art Aufmunterung, die ein hoffnungslos verunsicherter junger Einzelgänger wie ich nötig hatte. Leider wurde das zur Norm bei meinen Eltern.
Ich fing an, eine Mauer um mich herum hochzuziehen. Ich stieß die Kinder vorsorglich von mir weg. Ich fing an, mich wie ein Klugscheißer oder Clown aufzuführen, bis letztlich niemand mehr gerne in meiner Nähe war. Ich wünschte mir einerseits, nicht immer alleine zu sein, aber andererseits tat ich Dinge, die die Leute von mir fernhielten. Mein innerer Konflikt war mitunter qualvoll. Ich war hilflos. Viele andere Kinder aus der Nachbarschaft besuchten gemeinsam den Hebräischunterricht, was ihre Freundschaften aus der Schule 164 vertiefte bzw. zu neuen Bekanntschaften abseits der Schule führte. In meiner Familie zündeten wir Kerzen an und feierten oberflächlich jüdische Feiertage, aber sehr religiös waren wir nicht. Ich hatte auch keine Bar-Mizwa. Aber der Grund, warum ich nicht dorthin ging, hatte nichts mit alldem zu tun. Ich sagte meinen Eltern ganz einfach, dass ich keine Lust darauf hatte. Allerdings klärte ich sie nicht über das Warum auf: Klar, ich fühlte mich schon als Jude, aber ich wollte nicht noch mehr Leuten ausgesetzt sein. Das Leben war auch so schon trist genug, da musste ich mich nicht noch in zusätzliche Situationen bringen, in denen ich durch die Angst vor Demütigung wie gelähmt gewesen wäre.
Okay, die Schule ist um drei vorbei. Wie wärs denn mit einer Zugabe um halb vier mit ein paar anderen Kindern? Großartig.
Die Schule hatte einen Glee-Club, eine Art Schulchor, der mich interessierte. Eine Chance zu singen! Jedes Jahr studierte man dort ein Musical ein, und jeder durfte für eine Rolle vorsingen. Gleich im ersten Jahr entschloss ich mich, mein Glück zu versuchen. Als ich an der Reihe war, ging ich auf die Bühne, die sie im Schulsaal hatten, und öffnete den Mund, um vor all den anderen Leuten meine Stimme ertönen zu lassen. Jedoch war alles, was herauskam, ein schwaches Piepsen. So landete ich schließlich, statt eine eigene Rolle zu bekommen, im Chor – als einer der Matrosen in HMS Pinafore oder was auch immer. Ich bewarb mich jedes Jahr für eine Rolle in einer dieser Inszenierungen, aber jedes Mal blieb mir beim Vorsingen die Stimme im Hals stecken – ein kleines Stimmchen war alles, was ich hervorbrachte. Also sang ich jedes Mal im Chor, obwohl ich wusste, dass ich die meisten der anderen Schüler, die sich die Hauptrollen sicherten, hätte an die Wand singen können.
Auch Pfadfinder gab es an meiner Schule. Nachdem ich ein paar meiner Mitschüler in ihren blauen Uniformen gesehen hatte, dachte ich darüber nach, mich ihnen anzuschließen, und als ein neuer Freund namens Harold Schiff ebenfalls in Uniform aufkreuzte, nahm ich sein Angebot an, ihn auf eines der Treffen zu begleiten. Harold gehörte zu den Mainstream-Kids, freundete sich aber auch mit ein paar Außenseitern wie mir an. Und er verstand sich gut mit einigen anderen Jungs aus der Pfadfindergruppe. So etwa mit Eric London, der mit ihm gemeinsam im Schulorchester spielte, oder mit Jay Singer, der Klavier lernte. Ich hatte Eric und Jay zwar im Glee-Club kennengelernt, aber ihre Freundschaft mit Harold basierte hauptsächlich auf dem gemeinsamen Besuch des Hebräischunterrichts. Ich blieb lieber für mich. Auch wenn ich mal wo mitmachte, hielt ich mich eher am Rande des Geschehens auf.
Jeder bei den Pfadfindern war hinter Leistungsabzeichen her. Es gab zum Beispiel welche für Fertigkeiten im Knotenbinden oder dafür, alten Ladys über die Straße zu helfen. Mir war das eigentlich scheißegal. Mich interessierte nur das Camping. Und das machten wir auch immer wieder an den Wochenenden. Ich hatte aber stets ein Problem, wenn ich bei Wanderungen die anderen aus den Augen verlor. So fand ich heraus, dass man keinen Orientierungssinn hat, wenn man halbseitig taub ist. Ich erinnere mich, dass ich auf einer Lichtung stand und jemanden rufen hörte: „Wir sind hier drüben!“ Ich hatte null Ahnung, woher die Stimme gekommen war. Ohne die Fähigkeit, die Herkunft von Geräuschen zu peilen, war das unmöglich. Ich fühlte mich ausgeliefert, da ich nicht wusste, wo ich war. Wieder einmal fühlte ich mich verloren.