Lernen S' Geschichte, Herr Reporter!. Ulrich Brunner

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Lernen S' Geschichte, Herr Reporter! - Ulrich Brunner

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Entfremdung zwischen der SPÖ und ihrer Studentenorganisation erreichte 1968 ihren Höhepunkt, als die Parteijugend die Maifeier der SPÖ am Wiener Rathausplatz störte. Kreisky war wütend und verlangte eine Entschuldigung, widrigenfalls der VSStÖ aus der Partei ausgeschlossen werde. Der VSStÖ kroch zu Kreuze, 13 Funktionäre verließen daraufhin den VSStÖ und gründeten eine eigene linke Gruppe. Es war dies der Beginn weiterer Spaltungen. Das Verhältnis des VSStÖ zur Mutterpartei blieb weiter angespannt. Kreisky drohte vor allem mit Konsequenzen, wenn die Parteijugend gemeinsame Aktionen mit kommunistischen Jugendorganisationen durchführte. Es kam auch mehrmals zur Sperre der finanziellen Unterstützung. Auch wenn Kreisky mit den SPÖ-Studenten immer wieder in Konflikt geriet, die 68er-Bewegung hat – trotz ihrer zeitweiligen Entartungen – wahrscheinlich den Weg für die Erfolge der Sozialdemokratie in Westeuropa erleichtert. Begonnen hat diese Bewegung schon Anfang der 1960er-Jahre in den USA mit den Protesten der Afroamerikaner gegen ihre Unterdrückung und setzte sich fort mit den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg. Die Proteste schwappten schließlich nach Europa über und hatten zunächst in Paris 1968 ihren Höhepunkt. Von da kam die Bewegung über Deutschland auch nach Österreich – mit Verspätung und in abgeschwächter Form. Der Kampf gegen falsche Autoritäten, für Mitbestimmung, für sexuelle Freiheit, für das Aufbrechen alter Strukturen half sicherlich mit, den Boden für den Machtwechsel zur Sozialdemokratie zu bereiten. 1967 brach ich das Studium ab und trat in die Redaktion der Neuen Zeitung ein. Damit war auch meine Mitgliedschaft bei den SPÖ-Studenten zu Ende.

      DER NIEDERGANG DER ARBEITER-ZEITUNG

      Kurz nach Antritt der Minderheitsregierung Kreisky im Jahr 1970 wechselte ich von der Neuen Zeitung zum Zentralorgan der SPÖ, der Arbeiter-Zeitung. Der SPÖ ging es gut, der AZ immer schlechter. Die Auflage sank unaufhörlich. In Verkennung der wahren Ursachen ortete die Redaktion die Schuld beim schlechten Vertrieb und mangelnder Werbung und ersuchte bei Kreisky um einen Termin. An einem Sonntagnachmittag um 15 Uhr empfing Kreisky eine kleine Gruppe von AZ-Redakteuren einschließlich meiner Wenigkeit im Garten seiner Villa in der Armbrustergasse. Kreisky saß in der Hollywood-Schaukel, die AZ-Redakteure auf Sesseln rund um den Vorsitzenden. Er habe den ganzen Nachmittag Zeit, kündigte Kreisky an, für 19 Uhr habe er einen Theaterbesuch geplant. Er habe diesen Besuch Olive Moorefield versprochen, einer damals in Wien sehr bekannten aus den USA stammenden Sängerin. Auf dem Programm stand das Stück Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny von Bert Brecht. Bevor wir unser Anliegen vorbringen konnten, hielt uns Kreisky ein politisches Referat über die Situation der Partei. Er bewertete jeden einzelnen der Landesparteivorsitzenden, hatte dieses oder jenes auszusetzen. Dann kamen die Minister dran, mit einigen Einwänden, aber überwiegend doch positiv bewertet. Als Kreisky auf Hannes Androsch zu sprechen kam, änderten sich Tonfall und Körpersprache. Er sprach so, wie ein Vater über seinen geliebten Sohn spricht: als hoffnungsvollen Nachwuchs. Das sollte sich ändern, als Kreisky den aufstrebenden, in der Partei sehr beliebten Finanzminister nicht mehr als Nachwuchshoffnung, sondern als Konkurrenten wahrzunehmen glaubte. Bei unserem Gespräch mit Kreisky im Jahr 1973 war das Verhältnis zwischen den beiden offensichtlich noch ungetrübt.

      Nach eineinhalb Stunden hatte Kreisky alle Spitzenpolitiker der SPÖ bewertet und wir hatten noch immer nicht darüber gesprochen, was der Redaktion unter den Nägeln brannte. Kreisky kam dann noch auf seinen bevorstehenden Theaterbesuch des Brecht-Stückes zu sprechen: »Hab’ ich euch schon erzählt, wie ich in Schweden Bertold Brecht getroffen habe?« In Erwartung spannender Gespräche zwischen dem Kommunisten Brecht und dem Sozialdemokraten Kreisky hörten wir zu. Kreisky holte weit aus und berichtete zunächst von seiner Reportertätigkeit für eine schwedische Zeitung über den sowjetisch-finnischen Winterkrieg. Da habe er übrigens auch den finnischen Nobelpreisträger für Literatur getroffen: »Wie hieß der noch?«, fragte sich Kreisky selbst, in seiner Erinnerung kramend. Der gebildete AZ-Redakteur Günter Traxler half aus: »Sillanpää!« Es war dies in den ersten zwei Stunden das erste Mal, dass Kreisky in seinem Redefluss kurz innehielt. Danach verharrte Kreisky noch eine Stunde im finnischen Winterkrieg. Brecht hatte er noch immer nicht getroffen. Uns AZ-Redakteuren rann die Zeit davon, da der Beginn des Theaterabends näher rückte. Schließlich erzählte Kreisky, er habe nach seiner Rückkehr nach Österreich erfahren, dass Brecht im selben Haus wie er gewohnt hatte: »Das muss der kleine Stoppelglatzige gewesen sein, mit dem ich ein paar Mal im Aufzug gefahren bin.« Also keine Diskussion mit Brecht. Das war die erste Enttäuschung des Nachmittags.

      Während unseres Gesprächs, das eigentlich ein Monolog Kreiskys war, wurden Kaffee und Kuchen serviert. Das Wetter war schön, die beiden Boxerhunde Kreiskys tollten im Garten herum und drängten sich öfter unter unsere Runde. Besonders zudringlich war Wastl, der Rüde. Er hinterließ auf meinen Anzug ein paar Speichelspuren, was mir nicht sehr gefiel, schließlich hatte ich für den Besuch beim Parteivorsitzenden meinen schönsten Anzug hervorgeholt. Ich versuchte zunächst unauffällig den Rüden abzudrängen, was mir nicht gelang. Also blieb mir nichts anderes übrig, als etwas nachdrücklicher zu sein, und meinem Abwehrversuch auch verbal Nachdruck zu verleihen. Ich erinnere mich nicht mehr genau, was ich dem Hund zugezischt habe. Kreisky unterbrach daraufhin seinen Monolog und warf mir einen strafenden Blick zu. Ich hätte mir das nicht gemerkt, wenn Kreisky sich nicht später einmal über einen jungen Presse-Redakteur beschwert hätte, der sich eines der beiden Boxer nur mit einem Fußtritt erwehren konnte. Kreisky rief am nächsten Tag in der Presse-Reaktion an und wollte wissen, wer dieser Redakteur sei. Die Auskunft, dass es sich dabei um einen guten Redakteur handle, befriedigte Kreisky nicht ganz: »Guter Redakteur? Kann ja sein, aber er kann kein guter Mensch sein, so wie der meine Hunde behandelt hat!« Die publizierte Behauptung, dass mein Zwischenfall mit Kreiskys Hund die Quelle für Kreiskys spätere Abneigung zu mir war, ist natürlich Unsinn, denn es folgten in den Jahren danach noch einige Einladungen in Kreiskys Villa zu abendlichen Gesprächen mit Journalistenrunden. Die spätere Abneigung Kreiskys mir gegenüber hatte ganz andere Gründe, dazu später.

      Wir saßen nun schon drei Stunden im Garten in der Armbrustergasse, und wir hatten immer noch nicht darüber gesprochen, warum wir überhaupt gekommen waren. Ab 18 Uhr kam Kreiskys Frau Vera in Abständen von 15 Minuten in den Garten, um ihren Mann daran zu erinnern, dass es Zeit sei, sich für den Theaterbesuch umzuziehen. Da war Kreisky aber noch im finnischen Winterkrieg. 15 Minuten vor Beginn der Vorstellung saß Kreisky noch immer in leichter Sommerkleidung im Garten. Da war klar, dass ein rechtzeitiges Eintreffen nicht mehr möglich war. Kreiskys Antwort an seine drängende Frau: »Den ersten Akt lassen wir aus. Der ist eh fad!« Vera Kreisky hatte es nicht leicht mit ihrem egozentrischen Mann.

      Der Termin bei Kreisky näherte sich dem Ende. Keiner der arrivierteren Redakteure wagte es, Kreiskys Erzählungen zu unterbrechen. Schließlich nahm ich mir ein Herz, unterbrach Kreisky und erinnerte daran, dass wir aus Sorge über die sinkende Auflage der AZ um eine Aussprache gebeten hatten. Nach kurzem Nachdenken glaubte Kreisky eine gute Idee zu haben: »Man müsste die AZ an der Adria in den italienischen Badeorten verschenken. Da gewöhnen sich die Leute daran und lesen sie auch zu Hause.« Dieser hanebüchene Vorschlag verursachte einen frühen Knick in meiner Verehrung für den großen Vorsitzenden. Rückblickend betrachtet hatte sich Kreisky wahrscheinlich in den Monolog geflüchtet, weil er auch nicht wusste, wie man der AZ helfen konnte. Als medienbewusster Politiker wusste er, dass man mit Parteizeitungen allein keine Wahlen gewinnt.

      Der Niedergang der AZ hatte natürlich ganz simple Ursachen. Die Zeitung hatte mit dem Erreichen der Regierungsmacht ihre Aufgabe als Kampforgan der Arbeiterbewegung verloren. Wir erhielten von Kreisky mehrmals die Aufforderung, kritisch mit den anderen Zeitungen umzugehen, mit den sogenannten »Unabhängigen«, wie es damals im Sprachgebrauch der SPÖ hieß. Dieselben Zeitungen, die wir kritisieren sollten, erhielten dann von Kreisky, aber auch anderen Regierungsmitgliedern, Exklusivstorys zugesteckt. Auf dem Heimweg von Kreiskys denkwürdigem Gespräch kaufte ich die Abendausgabe des Kurier, der wieder einmal neueste Pläne der Regierung veröffentlichte, die wir in der AZ-Redaktion zwar wussten, aber nicht schreiben konnten, weil sie

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