New Order, Joy Division und ich. Bernard Sumner
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Obwohl ich nicht zu den schulischen Überfliegern zählte, saß ich im Klassenzimmer weit hinten. An der Salford Grammar School – so wie in jeder anderen Schule – gab es die guten Jungs und die bösen Jungs. Die guten Jungs saßen vorne und die bösen sammelten sich in den hinteren Reihen. Ich saß stets in der letzten Reihe, nicht etwa weil ich ein Dummkopf oder ein Störenfried gewesen wäre, sondern weil ich den Lehrplan beziehungsweise wie er umgesetzt wurde extrem öde fand. Ich sehnte mich danach, etwas mehr angeregt zu werden. Sogar Geschichte war mir damals gleichgültig – obwohl ich heute Geschichte liebe. Meiner Überzeugung nach hatte das mit dem Lehrstoff zu tun, denn niemand von uns interessierte sich für Getreidezollgesetze oder die geflügelte Nuss des Ahornbaums – doch waren dies damals die Dinge, die wir zu lernen hatten. Trotz all der Jahre, die ich im Geschichtsunterricht saß, kann ich mich nur an eine Sache erinnern, nämlich daran, dass einmal eine Spinne von der Nase des Lehrers baumelte, als dieser gerade über die Brotpreise im 19. Jahrhundert oder Ähnliches schwadronierte. Das war es auch schon. Das ist alles, woran ich mich bezüglich dieses Faches erinnere – und trotzdem verschlinge ich heute Bücher zu diesem Thema.
In den Naturwissenschaften war es auch nicht viel besser, allerdings war unser Lehrer, Mr. Upton, der schon vor Jahren gestorben ist, nicht nur sehr streng, sondern auch ein recht schräger Vogel. Von Anfang an wurden wir vor ihm gewarnt: „Möge euch Gott helfen, er ist irre.“ Er war –
gelinde gesagt – ein Exzentriker. Gleich in unserer allerersten Stunde wies er uns an, dass wir alles auf amerikanische Weise, also mit weniger Buchstaben, schreiben sollten – um Tinte zu sparen.
Er fuhr ein kleines, dreirädriges Auto, das wir vom Klassenzimmer aus sehen konnten. Eines Tages, gegen Ende des Schuljahres, saßen wir in seiner Stunde, als wir durch das Fenster beobachteten, wie ein paar Sechstklässler, die fertig mit der Schule und dementsprechend euphorisch waren, zu seiner Karre gingen, durchs Fenster langten, die Handbremse lösten und das Gefährt aus der Parklücke schoben. Das eigentümliche Auto war auf einem Hügel gestanden und bevor wir uns versahen, ließen es diese Typen den Hang vor unserem Klassenzimmer hinunterrollen. Der Lehrer bekam davon natürlich genau gar nichts mit, da er mit dem Rücken zum Fenster stand. Wir hingegen hatten Logenplätze, als das dreirädrige Vehikel an unserem Klassenzimmer vorbeischoss und schließlich in eine Mauer donnerte. Es war ziemlich witzig, jedoch getraute sich keiner von uns zu lachen, weil wir uns so vor dem Lehrer fürchteten. Wir bissen uns alle auf die Innenseite unserer Wangen, starrten in unsere Schulhefte, alles nur, um nicht lautstark über das unglückselige Schicksal seines kleinen Autos lachen zu müssen.
Doch niemand von uns hätte prophezeien können, wie seine Laufbahn an der Salford Grammar School schließlich ihr Ende fand. Eines Tages saßen wir im Mathematik-Unterricht, als wir von draußen plötzlich Glas zerbrechen hörten. Wir konnten gerade noch sehen, wie Stühle durch die Fenster des naturwissenschaftlichen Klassenzimmers, in dem der wirre Lehrer unterrichtete, geworfen wurden und auf dem Asphalt landeten. Unser erster Gedanke war, dass er vermutlich ganz besonders schlechte Laune gehabt und jemanden beim Lachen oder so erwischt hatte. Die Wahrheit allerdings war viel schlimmer.
Zuerst hatte er alle Bunsenbrenner dahingehend manipuliert, dass es nicht länger möglich war, den Gasfluss zu regulieren. Dann separierte er die jüdischen Kinder von den restlichen Schülern seiner Klasse, sperrte sie im Klassenzimmer ein, ging in sein Kämmerchen und drehte das Gas auf. Was wir da hörten und sahen, waren die armen Schüler, die Stühle durch die Fenster warfen, um Luft zu bekommen. Es war absolut grauenhaft. Es war wenig verwunderlich, dass wir den Lehrer nie mehr wiedersahen. Vermutlich wurde er in eine Zwangsjacke gesteckt und fortgebracht.
Abgesehen von diesem befremdlichen Holocaust-Vorfall ähnelte meine Zeit an der Salford Grammar School in vielerlei Hinsicht jener an der Grundschule. Weil allerdings alles größer war, traf ich auch auf mehr gleichgesinnte Kinder. Wir fanden uns und bildeten eine Gruppe von Taugenichtsen am hinteren Ende der Klasse. Eines dieser Kinder war ein Typ namens Peter Hook. Rückblickend haben wir uns höchstwahrscheinlich zum ersten Mal in der letzten Reihe eines Klassenzimmers an der Salford Grammar School getroffen. Wir hatten unsere eigene Clique: Außer mir waren da neben „Hooky“ Terry Mason und Dave Pearce, dessen Vater Polizist war. Wenn ich mich nicht irre, ging auch Dave später zur Polizei, und zwar als Scharfschütze.
Wenn wir damit durchkamen, verbrachten wir die monotonen Unterrichtsstunden damit, über Mädchen und Musik zu quatschen. Falls das nicht möglich war, saßen wir einfach nur da und langweilten uns, gafften auf die Uhr und sehnten das Ende der Stunde herbei. Auf unsere Art waren wir in vielerlei Hinsicht wie die Kids aus der englischen Sitcom The Inbetweeners: hoffnungslose Verlierer, die aber eine gute Zeit dabei hatten. Ich erinnere mich etwa daran, dass einer meiner Klassenkameraden eines Tages besonders beliebt war, weil er ein Pornoheftchen in die Schule geschmuggelt hatte. Die waren damals nämlich nicht leicht zu bekommen.
Auch Gresty aus der Alfred Street gehörte zu unserer Hinterbänkler-Gang und war bekannt für einen Trick, den er lange Zeit mit Erfolg abzog: In seiner Schultasche hatte er einen großen Schraubenschlüssel, den er, wenn der Lehrer gerade nicht zu ihm hinsah, auf den Boden fallen ließ, was ein lautes Geräusch verursachte. Dann hob er ihn schnell auf und steckte ihn wieder zurück in seinen Ranzen, bevor der Lehrer die Lärmquelle ausfindig machen konnte. Dafür war einiges an Geschick notwendig und es war ziemlich beeindruckend. Natürlich hatte dieses Kunststück, wie jede andere Show auch, ein Ablaufdatum und Gresty realisierte irgendwann, dass er eine neue Nummer bräuchte. Eines Tages trotteten wir in das Klassenzimmer, in dem die Mathe-Stunde gehalten wurde, und schlichen zurück in die letzte Reihe. Als wir uns hingesetzt hatten, fiel uns auf, dass Gresty sich ganz vorne niedergelassen hatte. Wir sahen uns entsetzt an. Was zum Geier hatte er vor?
Unser Mathe-Lehrer hieß Johnny Barker und auch vor ihm hatten wir eine Heidenangst. Ich glaube, er hat im Krieg einiges mitansehen müssen. Er hasste es zum Beispiel, dass wir unsere Bücher in Schultaschen herumtrugen, und schrie: „Ihr ruiniert die Bücher mit diesen Schultaschen. Meine Kameraden und ich mussten in den Krieg ziehen, damit ihr diese Bücher überhaupt haben könnt!“ Im Anschluss tickte er komplett aus und verbrachte den restlichen Unterricht damit, uns immer wieder zu erklären, dass wir nicht wüssten, wie gut wir es hätten, beziehungsweise, was seine Kameraden im Krieg alles durchmachen hätten müssen. Es war ein wenig seltsam, aber weiter kein Problem für uns, da wir dadurch weniger Zeit mit Mathe verbrachten.
Ein Markenzeichen von Mr. Barker war, dass er uns befahl, unsere Hausaufgabenhefte herauszuholen, damit er von Schüler zu Schüler gehen konnte, um die Hausaufgabe zu kontrollieren und abzuhaken, wobei er seine Runde stets in den vorderen Reihen begann. Wir machten nur selten unsere Hausaufgabe, zumindest nicht selbst. Gelegentlich schrieben wir sie in der Toilette vor den Schulstunden ab. Deshalb versuchten wir immer, ihn abzulenken. Die erfolgreichste Methode war, Barker in ein Gespräch zu einem Thema zu verwickeln, zu dem er ganz entschiedene Ansichten vertrat. Wir wussten bald, dass das am besten mit Cricket und dem Krieg funktionierte. Einer von uns fragte dann mit unschuldiger Stimme so etwas wie: „Sir, wie war denn das im Krieg? Waren die Spitfires wirklich so gut, wie man sagt?“ Oder: „Welches ist das beste Team, das es je in Lancashire gegeben hat, Sir?“ In der Regel blickte er dann aus dem Fenster und ließ einen seiner Monologe vom Stapel, entweder über die Vielseitigkeit