New Order, Joy Division und ich. Bernard Sumner
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Ich schäme mich dafür, dass ein paar von uns auch hin und wieder nach Manchester fuhren, um Ladendiebstähle zu begehen, und zwar in erster Linie aus Langeweile und hauptsächlich wegen der Jeans. Wir konnten uns weder Levi’s noch Wranglers leisten, wollten aber dennoch cool aussehen, wenn wir im Jugendclub einliefen. Deshalb klauten wir sie gelegentlich. Die Herausforderung an sich spielte ebenso eine Rolle. Lange sollte das aber nicht anhalten. Einmal beteiligte ich mich bei einem Wettkampf, bei dem es darum ging, Kugelschreiber mitgehen zu lassen, und wurde prompt von einem Typen erwischt, der meinte, dass er die Geschäftsführung verständigen würde, wenn ich den Stift nicht zurücklegte. Danach klaute ich nie wieder. Meine Mutter hätte mich wohl gekillt. Die möglichen Konsequenzen wären das Risiko nicht wert gewesen.
Abgesehen von Girls und Klamotten drehte sich in meinen mittleren Teenagerjahren aber alles um Musik. Es war, als wäre eine Box geöffnet worden, aus der nun dieses sehr starke Licht entwich. Hooky und ich waren geradezu fanatisch. Ich weiß nicht, ob es damit zu tun hatte, dass uns in der Schule alles langweilte. Oder ob der Grund darin lag, dass es zu dieser speziellen Zeit gerade besonders viel gute Musik gab. Egal, unsere Faszination grenzte schon an Besessenheit.
Ein großes Ereignis während meiner Schulzeit war der Tod von Jimi Hendrix im Jahr 1970. Ich mochte Gitarrenmusik, konnte aber in Jimis Material nur wenige Melodien finden. Mein Banknachbar war ein eher stiller Typ. Ich sagte zu ihm: „Du magst doch Jimi Hendrix, oder? Er ist gerade gestorben, ja?“ Er antwortete: „Ja, das stimmt.“ Ich meinte darauf: „Ich habe versucht, mich in sein Zeug einzuhören, aber ich finde keine Melodien. Was ist so besonders an ihm?“ Er drehte sich zu mir um und sah mir in die Augen. Dann sagte er ganz ruhig: „Ich mag ihn einfach. Okay?“ Ich hielt das für eine sonderbare Reaktion und sie machte mich nur noch neugieriger. Polydor hatte nach seinem Tod eine EP mit „Voodoo Chile“, „All Along the Watchtower“ und „Hey Joe“ veröffentlicht. Ich legte die Scheibe auf den Plattenteller, hörte zu und die ersten paar Male kam es mir wie Krach vor. Zuerst konnte ich mir einfach keinen Reim darauf machen, was die Leute darin hörten. Doch dann, ganz plötzlich und mit einem Schlag, erschloss es sich mir. Es hatte ein Weilchen gedauert. Ich bin dem Jungen, der mir damals in der Schule keine Erklärung geben wollte, heute dankbar, weil ich mich stattdessen selbst dahinterklemmte, bis es schließlich „klick“ bei mir machte.
Die frühen Fleetwood Mac, vor allem Peter Greens Songwriting und sein Gitarrenspiel, mochte ich ebenfalls. Weniger das bluesige Zeug. Es verwirrte mich immer, wenn britische Bands sich endlos über den Blues ausließen. Ich mochte keine Nummern, die nach Blues klangen – ich mochte es, wenn sie nach einer Band aus England klangen und nicht versuchten, eine Blues-Combo aus Amerika zu sein. So wie ein Album der Rolling Stones mit einem achteckigen Plattencover. Es hieß Through the Past, Darkly und es waren alle Hits darauf vertreten: „Jumping Jack Flash“, „Street Fighting Man“ – ich liebte das Zeug. Vor allem „2000 Light Years From Home“ war ein großartiger Track, weil es sich nicht nach einer Bluesband anhörte, sondern einfach wie die Rolling Stones. Selbstverständlich gab und gibt es einige großartige, authentische amerikanische Bluesmusiker, aber der Kram, den ich mochte, war kein Blues, nein, es waren Bands, die den Blues als Zutat verwendeten, aber wo letztlich etwas total anderes dabei herauskam. Sie filterten ihn durch ihre eigenen Erfahrungen und ihre ihnen vertraute Umgebung. Das gefiel mir am besten und das tut es immer noch.
Meine eigene Musik ist mit Sicherheit das Produkt meiner Erfahrungen. Und als ich mich dem späten Teenageralter näherte, machte ich diese Erfahrungen Länge mal Breite.
Auch nachdem wir in die Wohnung auf der anderen Seite des Flusses in Greengate gezogen waren, verbrachte ich die meiste Zeit in der Alfred Street. Sie hatte eine magnetische Anziehungskraft auf mich. Ich besuchte dort ständig meine Großeltern und hing mit meinen Freunden ab. Meine Kindheit war definitiv nicht unglücklich. In vielerlei Hinsicht war es eine schwierige Zeit, vor allem im Vergleich zu anderen, aber ich war auf keinen Fall unglücklich.
Ich liebte es, in Salford aufzuwachsen und fühlte mich mit der dortigen Gemeinschaft eng verbunden. Außerdem hatte ich dort viel Spaß und erlebte fantastische Zeiten. Mein Horizont ging nicht weit über die paar lokalen Straßenzüge hinaus – aber immerhin kannte ich diese dafür in- und auswendig. Mitunter schwangen wir uns auf unsere Motorroller und fuhren in das Mittelgebirge der Pennines, zum Moor oder nach Blackpool. Wir schwänzten die Schule und preschten einfach davon.
Als ich zum ersten Mal am Land war, war das für mich wie eine andere Welt, denn die unsrige bestand aus roten Ziegelsteinen, Schmutz und Staub. Aber auf unseren Rollern mit ihren zwölf Zoll breiten Reifen konnten wir mitten im Winter durch die verschneiten, nebelverhangenen Pennines düsen. Sturzhelme hatten wir keine. Es war vollkommen irre. Dennoch lag darin eine seltsame Art von jugendlicher Unschuld. Wenn man in der Nacht spazieren ging, musste man sich schon gut auskennen. Man musste wissen, wo man sich aufhielt, und darauf achten, nicht zur falschen Zeit der falschen Posse über den Weg zu laufen. Sonst drohte einem eine gehörige Tracht Prügel. Es schlichen sich genügend Psychos in der Gegend herum – Leute, die mit zugespitzten Regenschirmen, Hämmern und mitunter auch Schwertern bewaffnet waren. Man versuchte einfach, diesen Knallköpfen aus dem Weg zu gehen.
Salford war meine Welt. Man machte aus dem, was man hatte, das Beste und darüber hinaus kannte man gar nichts Anderes oder Besseres. Ich hatte null Ahnung, was es sonst noch so gab. Und in gewisser Weise war das auch egal: Ich war fest in meiner Familie verankert, weshalb nie zur Debatte stand, fortzugehen. Es war eine so intensive Phase meines Lebens, dass ich immer noch, mittlerweile 40 Jahre später, davon träume. Dies war eine der glücklichsten Zeiten in meinem Leben, was an meiner Familie, der Gemeinschaft, den Freunden, dem Zugehörigkeitsgefühl und dem wunderbaren Mangel an Verantwortung lag.
Allerdings sollte ich schon bald begreifen, dass nichts für immer ist. Ich erinnere mich daran, wie ich eines Tages von der Schule nachhause kam und auf dem Tisch eine landesweit erscheinende Londoner Zeitung lag. Aufgeschlagen war eine Seite, die von einem Artikel über „Großbritanniens größten Slum“ dominiert wurde. Ich begann zu lesen. Die Kernaussage war, dass Großbritannien einen der größten und schlimmsten Slums Europas und ein wahres Augengeschwür beheimate. Es handle sich um einen Ort, für den sich die Nation schämen müsse. Als ich weiter las, wurde mir klar, dass diese Schande Großbritanniens Salford sei. Ich dachte mir: „Moment, da lebe ich ja. Ich lebe doch in keinem Slum.“ Ich war ernsthaft gekränkt und außerdem verwirrt, weil, soweit es mich betraf, das hier ein schöner Wohnort war. Offensichtlich herrschten unten im Süden andere Maßstäbe.
Es sollte nicht lange dauern, da begann die örtliche Verwaltung, Teile dieses angeblichen Schandflecks auszuradieren. Pläne wurden umgesetzt, um die Leute aus den alten viktorianischen Straßen in neue Wohntürme umzusiedeln. Aus ihrer Perspektive war es billiger, alle in so einem Blockgebäude unterzubringen, als die alten viktorianischen Häuserreihen zu renovieren, sie mit Zentralheizungen und ordentlichen Badezimmern zu versehen, was leicht möglich gewesen wäre, da die meisten Häuser ja über ein drittes Schlafzimmer verfügten. Sie beschlossen allerdings, einfach alles plattzumachen und die Menschen in diese Bienenstöcke aus Beton zu stopfen. Die Architekten scherten sich nicht um die Gemeinschaft – warum hätten sie das auch tun sollen?