Hölle auf zwei Rädern. Kerrie Droban
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Читать онлайн книгу Hölle auf zwei Rädern - Kerrie Droban страница 10
Ich war sechs Jahre alt, und mein Vater saß schon im Knast. Mum brauchte Geld und verkaufte aus der Garage heraus Ersatzteile für die Bikes. Saint, damals noch 21, knatterte mit seiner Maschine wie ein Filmstar die Auffahrt hoch. Er trug keinen Helm, aber eine spiegelnde Sonnenbrille, eine Kutte und schwarze Jeans. Die lange, wilde Mähne umspielte sein Gesicht. Er stieg ab, stolzierte durch die Garage, nahm einige Teile in die Hand, schien aber mehr an mir interessiert zu sein. Ich hockte hinter einer kaputten Couch mit Karomuster und flüsterte zu mir selbst.
„Mit wem redet der?“, fragte Saint meine Mum. Er zog ein Dollarbündel aus der Weste und knallte es auf den Tisch: „Fürs Licht.“
„Mit seiner Farmerfamilie.“ Sie stellte den Ton des Fernsehers lauter. Bei uns standen zwei Geräte übereinander, von denen aber keins vernünftig funktionierte. Der eine Fernseher war noch eine Schwarzweiß-Flimmerkiste und in dem anderen klaffte ein riesiges Loch.
„Was dagegen, wenn ich ihn auf eine Spritztour mitnehme? Er sieht so aus, als würde er Hilfe brauchen.“ Saint hielt die Handschuhe in der rechten und klopfte damit in die linke Hand.
„Pass aber auf, dass er einen Helm trägt“, murmelte Mum. Sie war total in Der Preis ist heiß versunken. Eine Kippe hing in ihrem Mundwinkel.
Saint kniete sich neben mich und tätschelte meinen Kopf. „Hey Kleiner, hast du schon mal so ein Ding gesehen?“ Er zeigte auf seine Maschine. Glänzendes Chrom blitzte vor dem Hintergrund des trostlosen Graus der Garage auf. Ich hatte schon viele Bikes gesehen, meist auseinandergebaut in unserem Wohnzimmer, aber niemand hatte mich je zu einer Fahrt eingeladen.
Ich verließ den Schutz des Sofas und rannte zu der Maschine, um aufzusteigen. Natürlich fiel ich runter und schürfte mir die Hände am Beton auf. In meiner Jeans klaffte ein Loch. Saint lachte.
Er setzte mich auf den Sozius. „Leg deine Hände um meine Taille und halt dich ganz fest, klar?“ Dann drückte er meine kleinen Hände in seinen Gürtel. Meine Beine baumelten in der Nähe des Auspuffs in der Luft.
„Zieh sie ein wenig hoch“, instruierte mich Saint. „Sonst wirst du sie dir noch verbrennen.“
Ich hörte aufmerksam zu und befolgte die Anweisungen. Ich beobachtete ihn, wie er mit seinem Fuß den Kickstarter der Harley durchtrat. Der laute Knall des Auspuffs jagte mir so eine Angst ein, dass ich wieder zu Mum rannte.
„Verdammter Schisshase. Genau wie dein Vater“, bemerkte sie zynisch, die Hände in die Seiten gestemmt, die Lippen voller Missgunst in Falten gelegt.
Danach kam Saint immer öfter vorbei. In seiner Gesellschaft fühlte ich mich gut. Er verkörperte das Bild, das ich von einem richtigen Vater hatte: Saint stand für Ehre. Die Pagans nannten das Rechtschaffenheit. Nicht jeder Pagan war rechtschaffen. Es gab verschiedene Grade der Auszeichnung. Die Leute hörten auf Saint und luden ihre Probleme bei ihm ab. Auf eine magische Art konnte er sie immer lösen – wie ein Zauberer. Er wusste alles Mögliche, privaten Scheiß, von dem kein anderer Ahnung hatte, und auch etwas über Drogendeals, mögliche Risse im Gruppengefüge und Fallen.
Wenn ich ihn darum bat, mir zu erklären, warum er so weise ist, zuckte er nur gleichgültig mit den Schultern und meinte: „Ich habe die Dinge beobachtet. Es wiederholt sich alles. Nach einer Weile habe ich die Klappe gehalten und den Leuten einfach zugehört.“ Er lehrte mich, beschrieb Szenarien, Leute, die bei ihm in der Kreide standen, Typen, die ihm Meth schuldeten, oder einen Kerl, der seine alte Dame respektlos behandelt hatte.
„Was würdest du tun?“, lautete die Testfrage. Er spielte mit den Spiegeln des Bikes, wischte sie mit einem weichen Lappen ab, ergötzte sich an seiner Reflektion und stoppte, um mir zuzuhören.
„Wahrscheinlich ihm seine verfluchten Eier zerquetschen“, erwiderte ich ehrlich.
„Dann kann ich nichts mit dir anfangen“, knurrte er geringschätzig.
Ich runzelte die Stirn. Saint seufzte, steckte den Lappen in die Jeans und holte zu einer Erklärung aus. „Bei jeder Geschichte gibt es zwei Seiten: Die Wahrheit und die falsche, ausgedachte Story. Stell dir mal diese Kirmesspiegel vor. Jeder zeigt ein unterschiedliches Bild desselben Gegenstandes. Die Kunst liegt darin, sich den richtigen auszusuchen.“
„Und wenn ich den falschen wähle.“
„Dann prasselt das ganze Glas auf deinen Kopf.
„Und wie findest du den richtigen?“
„Hör mal zu“, meinte er knapp. „Stell dir vor, ein Typ erzählt eine Story über einen anderen Kerl. Danach bittet er dich, dass du dich um seine Geschäfte kümmern sollst. Hör dir danach den anderen an, wie er die Geschichte aus seiner Sicht erzählt. Erst dann entscheidest du dich, wem du den Schädel zertrümmerst.“
Das ergab einen Sinn.
„Es ist der Unterschied zwischen dem Tierinstinkt und der menschlichen Beherrschung und Zurückhaltung“, fuhr er fort, doch ich kapierte nicht genau, was er meinte. „Stell dir Löwen vor, die im Käfig herum stolzieren. Der Zoowärter lässt einen Ziegenbock in das Gehege. Was machen die Löwen nun?“
„Sie greifen ihn an.“ Ich zuckte mit den Schultern. Zu der Zeit schien diese Frage lächerlich einfach zu sein. Mit dem Strohhalm fischte ich nach Eisbrocken in meinem Kaltgetränk und kaute darauf rum. Durch die feuchte Luft hatten sich Schweißflecken auf meinem T-Shirt gebildet. Es sah bedrohlich nach einem Regenschauer aus.
„Genau. Es ist Instinkt. Ihnen ist es egal, ob vielleicht ein Hirsch in einer Minute vor ihrer Nase seht. Sie jagen die Beute, die sie leicht und schnell fangen können. Wir können uns so ein Verhalten nicht leisten und müssen überlegen, denn der Hirsch kann möglicherweise die bessere Mahlzeit sein. Kannst du mir folgen?“
„Ich glaube schon.“ Ich runzelte die Stirn und schmiss den leeren Pappbecher in den Müll.
Am Abend nahm mich Saint auf eine Spritztour mit, um die Theorie in der freien Wildbahn zu beweisen. Ich schlüpfte auf den Rücksitz des Lincoln Continental und schnappte mir das Happy Meal von McDonald’s. Mein Gesicht schmerzte fast vor Lächeln.
„Aufgeregt?“ Ich konnte das breite Grinsen von Saint im Rückspiegel sehen.
Ich nickte und leckte Ketchup von meinen Fingern. Natürlich spürte ich die Aufregung, denn ich war ja erst zehn.
„Dein erster Auftrag!“ Er warf mir eine Serviette zu. „Wisch dir das Gesicht ab, Kleiner.“ Mein Herz raste. Das würde ein ganz großes Ding werden.
Wir holten Dagger ab, der eine kugelsichere Weste auf der nackten Haut trug. Er rutschte auf den Beifahrersitz und sah aus wie James Dean mit seinem kurz geschnittenen, blonden Haar, der reinen, nicht tätowierten Haut und dem extrem durchtrainierten Körper. Er arbeitete als „Steuereintreiber“ für die Mafia. Es wurde von allen Geschäftsleuten erwartet, der Mafia oder den Pagans eine „Straßensteuer“ zu bezahlen,