Zweitsommer. Isolde Kakoschky
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»Fährst du bitte morgen und vielleicht auch übermorgen mal bei ihr vorbei?«, bat sie Jana. »Julia wird sie auch besuchen, aber du stehst ihr doch näher.«
»Natürlich mache ich das!«, erwiderte Jana verständnisvoll. »Das ist doch nach der Arbeit gar kein Problem. Und außer dem Hund wartet ja auch niemand auf mich. Also werde ich mich bei Mama zum Abendbrot einladen. Fahr du nur ganz unbesorgt mit den Kindern los!«
Trotz der beruhigenden Worte ihrer Schwester gingen Berit tausend Gedanken durch den Kopf, als sie ihre Reisetasche für den morgigen Tag vorbereitete. Nein, um ihren Mann und Julia musste sie sich nicht sorgen. Die beiden kamen gut alleine klar. Aber die Mutter erschien ihr momentan hilfsbedürftig wie ein kleines Kind. Wenn sich Berit an ihre Kindheit und Jugend erinnerte, dann hatte die Mutter immer alle Geschicke der Familie in den Händen gehabt. Oft hatte sie so etwas wie unsichtbare Fäden geführt, um ihre Lieben zu lenken und zu leiten. Doch nun stellte sich heraus, dass es einen schwachen Punkt an ihr gab, dass die starke Frau ohne ihren geliebten Heinrich kraftlos war.
Berit schob die Gedanken beiseite. Gleich würde Daniel aus dem Geschäft kommen, dann sollte das Essen auf dem Tisch stehen. Also, keine Zeit für Grübeleien.
Zum Glück ließen die Erinnerungen Berit in der Nacht in Ruhe schlafen und so erwachte sie recht ausgeruht am nächsten Morgen. Zusammen mit Daniel war sie aufgestanden und sie hatten sich auch noch einen gemeinsamen Kaffee gegönnt. Doch dann drängte die Zeit.
Berit verstaute ihr Gepäck im Auto und setzte sich neben Daniel auf den Beifahrersitz. Er wollte seine Frau schnell noch vor der Arbeit zum Kinderhaus bringen und dann das Auto wieder mit zurück nehmen. Dann musste der Audi nicht drei Tage lang herrenlos im Neubaugebiet stehen. Es war schon ein sozialer Brennpunkt geworden in den letzten Jahren. Als die Neubauten vor 30 Jahren gebaut wurden, waren sie überaus begehrt. Denn im Vergleich zu den winzigen Bergmannshäusern, in denen es oft noch nicht einmal eine Innentoilette gab, besaßen die Plattenbauten mit Heizung, Warmwasser und Bad den reinsten Luxus. Doch nach und nach waren die besser gestellten Bewohner abgewandert, hatten sich ein Häuschen gebaut oder waren der Arbeit hinterher gezogen, in den Westen Deutschlands. Übrig blieben die sozial Schwachen, Arbeitslose, Rentner und Umsiedler aus Russland.
Und genau aus diesen Schichten kamen auch die Kinder, die ein wenig Geborgenheit und Zuwendung so nötig hatten, wie Essen und Trinken.
Ein Dutzend aufgeregter Kinder stand dann auch schon schnatternd wie ein Entenschwarm auf dem Platz vor dem Haus.
»Hallo Berit, da bist du ja!«, tönte ihr eine Stimme aus einem weißen Kleintransporter entgegen. Es war Thomas, ihr Kollege, der sie und die Kinder begleiten sollte. Berit drückte ihrem Mann noch schnell einen Kuss auf die Wange und war im nächsten Moment von der munteren Truppe umringt.
Inzwischen hatte Thomas den zweiten Kleinbus vor das Haus gefahren. »Sind schon alle da?« Er sah in die Runde und nickte zufrieden. »Es sieht so aus, als wären wir vollzählig. Keiner hat verschlafen.« Thomas lachte. »An Schultagen sieht das meistens nicht so gut aus.« Auch er kannte die Probleme. Thomas war vor fast zwei Jahren als Zivildienstleistender ins Kinderhaus gekommen. Der Dienst war längst vorbei, doch er war der Einrichtung als freiwilliger Helfer erhalten geblieben. Für
diese Fahrt hatte er sogar drei Tage Urlaub geopfert.
»Alles einsteigen!« Das ließen sich die Kinder nicht zweimal sagen. In jedem Fahrzeug fanden sechs der Kinder einen Platz. »Sind auch alle angeschnallt?« Nach einem einmütigen »Ja!« starteten die beiden Betreuer die Fahrzeuge und es ging los. Zuerst hinunter in die Altstadt, von dort aus folgte der Reiseweg dem Flüsschen, das zwar nicht immer für die Kinder sichtbar war, aber mehrfach von der Straße gekreuzt wurde. Sie durchquerten einen kleinen Vorort und näherten sich schon bald Mansfeld, dem Ort, welcher der Region ihren Namen gegeben hatte. Die Kinder verrenkten sich fast die Hälse, als sie oben auf dem Berg das Schloss sahen. Berit war tief berührt von den staunenden Blicken dieser Kinder, als sie kurz in den Rückspiegel sah.
Kurz darauf bogen die beiden Kleinbusse nach rechts auf eine etwas schmalere Straße ab, auf der sie bald ein Dorf durchquerten. »Frau Schwerzer, hier war ich schon mal!«, rief hinter ihr ein Junge.
»Da kommt ein Teich und da war ich mal mit meinem Opa angeln!« Der Junge strahlte übers ganze Gesicht. Zum einen war er stolz, etwas zu wissen, und zum anderen schien er sich gern an den Angelausflug mit seinem Opa zu erinnern.
»Oh, das ist ja prima, Kevin, dann kannst du ja nachher für uns der Wanderführer sein. Dann können wir uns nicht verlaufen«, schlug Berit vor.
»So, jetzt sind wir gleich da.« Der kleine Kindertransport bog nach links in einen Waldweg ab und hielt kurz darauf vor der Jugendherberge an.
»Alles aussteigen, Zug endet hier!«, ertönte die Stimme von Thomas herüber. Das ließen sich die Kinder nicht zweimal sagen. Sie schnappten sich ihre Taschen und sausten auch schon los in Richtung des großen Hauses, welches dort auf der Waldlichtung stand. Doch dann warteten alle ganz brav ab, bis auch Berit und Thomas ihr Gepäck genommen und die Autos abgeschlossen hatten, ehe sie in die Eingangshalle drängten.
Schnell waren die Formalitäten erledigt und alle nahmen ihre Zimmer in Beschlag. Die beiden großen Räume mit je drei Doppelstockbetten und einem Einzelbett waren wie gemacht für die Gruppe. Während sich Emily, ihre beiden Schwestern und noch drei Mädchen ein Zimmer mit Berit teilten, nahmen Kevin und die anderen Jungs das gegenüberliegende Zimmer gemeinsam mit Thomas in Beschlag. Der Blick aus dem Fenster offenbarte eine sehr weitläufige Umgebung inmitten des Waldes mit Fußballplatz, Volleyballfeld, Tischtennisplatten und anderen Spielgeräten. Es war zu verstehen, dass die Kinder nach draußen drängten.
»Recht habt ihr!«, nickte Berit verstehend.
»Schließlich haben wir jetzt genug im Auto gesessen. Also raus mit euch an die frische Luft!« Natürlich wusste Berit, dass die Fahrt nur eine halbe Stunde gedauert hatte, und da hatten sie sich noch Zeit gelassen, aber für einen Teil der Kinder war es wirklich schon eine richtige Reise gewesen.
Eine halbe Stunde später waren auch die beiden Betreuer nach draußen gegangen. Fast alle Kinder tobten auf den großen Spielplatz durch die Gegend. Nur Emily saß mit einem Buch am Waldrand auf einer Bank. Von Zeit zu Zeit sah sie auf und beobachtete ihre Schwestern. Berit setzte sich neben Emily.
»Sehen Sie nur, Frau Schwerzer, wie glücklich die beiden sind.« Emily deutete auf ihre Schwestern und lächelte.
»Und du, bist du auch glücklich?«, wollte Berit von ihr wissen.
»Ja, heute geht es mir gut, weil es Vicky und Lucy auch gut geht. Und meine Mutti kann sich auch mal erholen nach der Arbeit, wenn nur Tobi da ist.« Berit legte den Arm um Emilys schmale Schultern.
»Aber du bist doch deiner Mutti schon so eine große Hilfe. Ich glaube, sie ist sehr stolz auf dich. Also genieße diese Tage ruhig und tobe dich mit den anderen aus, du kannst es auch brauchen.«
Berit erhob sich und ging zu Thomas. Doch als sie das nächste Mal zur Bank sah, lag das Buch dort einsam und verlassen und Emily sauste mit ihren Schwestern gemeinsam dem Volleyball hinterher.
Die Zeit schien wie im Flug zu vergehen.
»So, lasst uns mal die Gegend erkunden«, schlug Thomas nach dem Mittagessen vor.
»Ja, und vielleicht finden wir den Teich, wo Kevin mit seinem Opa angeln war«, fügte Berit hinzu.
»Na, in welche Richtung müssten wir