Eisblumenblüte. Isolde Kakoschky
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Читать онлайн книгу Eisblumenblüte - Isolde Kakoschky страница 8
Betroffen schaute Mark sie an. Er hatte wieder zu ihrer Hand gegriffen und hielt sie fest. »Wieso das?«
»Ich weiß es nicht. Gerade das ist ja mein Problem«, brach es nun aus ihr heraus. »Meine Erinnerung beginnt an einem kalten Februartag mit dem Einsteigen in einen Zug. Meine Mutter hatte nur zwei Koffer mit Sachen dabei und ich meinen Schulranzen. Wir sind sehr lange gefahren, ein paarmal umgestiegen. Schließlich kamen wir auf einem Bahnhof an. Dort hat meine Mutter von einer Telefonzelle aus viele Male irgendwo angerufen, bis wir mit dem Gepäck losgelaufen sind. Von da an haben wir ein paar Monate im FDGB-Heim gewohnt, wo Mutti auch gearbeitet hat. Es war nur ein winziges Zimmer, aber wir hatten ein Dach über dem
Kopf. In dieser Zeit habe ich sie sehr wenig gesehen. Sie hat geschuftet bis zum Umfallen. Ich ging nach den Winterferien wieder zur Schule. Erst im Herbst zogen wir endlich in eine richtige Wohnung und Mutti fand eine Stelle im Hotel. Ich schloss ein paar Jahre später die Schule ab, machte eine Lehre zur Industriekauffrau. Seitdem arbeite ich im Getreidehandel. Natürlich wollte ich irgendwann eine Familie gründen, ich hatte einige Freunde, doch nie ist etwas daraus geworden. Heute denke ich, Mutti hat alle vergrault. In ihr war so ein tiefer Männerhass, den auch ich übernehmen sollte, und auch teilweise übernommen habe.« Kristina trank einen Schluck aus ihrem Weinglas.
»Und vorher? Von vorher weißt du gar nichts? Du warst doch nicht mehr so klein.« Mark war verwundert über das, was er gerade gehört hatte.
»Wenn ich jetzt nachdenke, weiß ich schon noch etwas von der Zeit vorher. Vor einer Woche bekam ich die Einladung zu einem Jahrgangstreffen aus meiner Geburtsstadt. Seit dem habe ich viel darüber nachgedacht. Ich weiß noch, dass wir mit den Großeltern in einem Haus gewohnt haben. Ich glaube, ich habe auch meine Mutter danach gefragt, aber sie wollte nie mehr darüber sprechen. Ich habe das akzeptiert, aus Liebe zu ihr, ich hatte ja nur sie. Und sie hat auch immer gesagt, wir haben uns, wir brauchen keinen. Einmal habe ich sie nach meinem Vater gefragt, da ist sie richtig böse geworden. Ich habe nie wieder mit dem Thema an-
gefangen. Bis vorige Woche der Brief meiner Mitschülerin kam, habe ich mir darüber auch keinerlei Gedanken gemacht. Aber seitdem grübele ich unentwegt, was früher war, warum meine Erinnerung wie im Nebel verborgen liegt. Es gibt ja ein paar Bilder, aber selbst da macht bei mir nichts richtig Klick. Weißt du, deshalb möchte ich auch im Januar zu diesem Treffen fahren. Ich hoffe einfach, wenn ich dort bin, wieder etwas zu erkennen.« Sie holte tief Luft.
Mark bestellte zwei Cognac. Was ihm Kristina da erzählte, das erschütterte ihn. »Prost! Ich glaube, wir können den brauchen. Weißt du, das klingt, als hättest du so eine Amnesie. Aber soweit ich weiß, passiert das nur nach Unfällen. Hattest du einen Unfall?«
Kristina schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin völlig gesund, jedenfalls was das Körperliche angeht. Vielleicht fehlt mir was im Kopf?«
Jetzt grinste Mark. »Manch einem fehlt was im Kopf, dir bestimmt nicht!«
Inzwischen war die Weinflasche leer.
»Bestellen wir noch eine?«, wollte Mark wissen.
»Weißt du was, wir bezahlen jetzt«, schlug Kristina vor. »Fahren kannst du eh nicht mehr. Also lass das Auto hier stehen. Komm mit zu mir, da habe ich noch ein Fläschchen Wein und das Sofa ist auch frei.«
Leicht irritiert strich Kater Toni um die Beine des fremden Besuchers, während Kristina aus der Küche eine Flasche Wein holte. In ihrem kleinen Weinkühlschrank, den sie sich vor ein paar Jahren geleistet hatte, fand sich immer ein wohltemperiertes Schlückchen.
»Setzt dich doch!« Sie nahm zwei Gläser aus dem Schrank und wies auf das gemütliche Sofa. Von der Anrichte brachte sie die kleine Schachtel mit den Bildern mit zum Tisch und nahm die Fotos heraus.
»Ist das deine Mutter?« Mark deutete sofort auf das oberste Foto. »Du siehst ihr sehr ähnlich.«
»Ja, das stimmt, das ist Mutti. Und auf ihrem Arm bin wahrscheinlich ich.«
Während Kristina und Mark sich die anderen Fotos ansahen, und Kristina ihrem Kollegen erklärte, was sie dazu wusste, schien dieser Nebel vor ihren Erinnerungen aufzureißen. »Das Haus meiner Großeltern stand an einem Hang, in einer schmalen Gasse. Zur Stadt ging es steil den Berg hinab. Ich glaube, im Winter fuhren da gar keine Autos und im Sommer nicht viele. Aber naja, wer hatte damals schon ein Auto?«
Sie schob die Fotos zur Seite und nahm das Passbild des unbekannten Mannes in die Hand. »Guck mal, könnte das vielleicht mein Vater sein?«
Nachdenklich bewegte Mark den Kopf hin und her.
»Also, Ähnlichkeiten finde ich nicht.«
»Stimmt«, pflichtete ihm Kristina bei. »Aber aus welchem Grunde sollte sie ausgerechnet dieses Bild aufbewahrt haben?«
Darauf wusste Mark auch keine Antwort. Sie griffen beide zu ihrem Weinglas und prosteten sich zu. Als sie getrunken hatten, legte Mark seinen Arm um ihre Schulter. »Ich weiß, es ist für dich jetzt quälend, nichts über deinen Vater zu wissen. Aber mach dir besser nicht zu große Hoffnungen, ihn jetzt noch zu finden. Vielleicht ist deine Mutter ja damals mit dir genau hierher, an die polnische Grenze gezogen, in der Hoffnung, hier ihren Freund oder was er auch immer war, wiederzufinden. Doch wenn sie es nicht geschafft hat, dann hast du noch weniger Chancen.«
Kristina nickte kaum merklich und nahm einen weiteren Schluck Wein. Wahrscheinlich hatte er recht. Sie lehnte ihren Kopf an Marks Schulter. Es tat so gut, jetzt nicht allein hier zu sein. Wie lange hatte sie kein Mann mehr im Arm gehalten? Wohlig schmiegte sie sich an ihn und war kurz darauf eingeschlafen.
Amüsiert blickte Mark in ihr entspanntes Gesicht. Hatte er das jetzt erwartet? Er bedeckte ihre Stirn mit vielen kleinen Küssen. Zärtlich sah er die Frau an, die er schon seit langer Zeit insgeheim liebte. Doch sie hatte bisher jede noch so kleine Annäherung abgeblockt. Und nun lag sie hier in seinen Armen, nahezu wehrlos. Ihre derzeitige seelische Verfassung und der Wein hatten ihr wohl zugesetzt. Vorsichtig trug er sie in den zweiten Raum der Wohnung, der sich ganz richtig als Schlafzimmer herausstellte, und legte sie auf das Bett. Er zog ihr die Hose aus und streifte ihr die Bluse über den Kopf. Noch einmal streichelte er sie zärtlich. Kristina lächelte im Schlaf. Mit einem sehnsüchtigen Blick zog er die Tür hinter sich zu.
6. Kapitel
Verdutzt rieb sich Kristina die Augen. Draußen war es hell. Sie lag in ihrer Unterwäsche im Bett. Langsam drang der Abend wieder in ihr Bewusstsein. Sie hatte mit Mark im Strandhotel gegessen. Dann waren sie in ihre Wohnung gegangen und hatten weiter geredet und die Bilder aus der Schachtel angesehen. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Verdammt! Wieso war sie eingeschlafen? Hatte Mark sie ins Bett gebracht?
Sie zog sich den Bademantel über und öffnete die Tür zum Wohnraum. Kater Toni hatte es sich im Sessel bequem gemacht, doch sonst war niemand da. Auch im Bad fand sie nur Leere vor. Wo war Mark? Weg! Er war gegangen, eine andere Erklärung gab es nicht. Sie hatte es verbockt. Da hatte sie den nettesten Kollegen der Welt, sie hatten beide den Abend genossen. Jedenfalls soweit sie sich erinnerte, und dann schlief sie einfach ein. So blöd konnte auch nur sie sein. Er hatte ja nicht einmal hier schlafen können, so ohne Decke und auf der schmalen Couch. Das hatte sie nun davon, sie war echt zu blöd, ganz normal mit einem Kerl ins Bett zu gehen. Deprimiert ließ sich Kristina auf einen Stuhl fallen,