Blutblume. Louise Boije af Gennäs
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Читать онлайн книгу Blutblume - Louise Boije af Gennäs страница 5
»Warst du denn wenigstens schon in der Innenstadt?«, fragte sie. »Ich weiß doch, wie sehr du dorthin willst. Aber du hältst dich von der Drottninggatan fern, so wie du’s versprochen hast, ja? Und keine Kopfhörer in den Ohren, vergiss das nicht!«
»Mama«, sagte ich geduldig. »Die Drottninggatan ist jetzt vermutlich die sicherste Straße in ganz Stockholm. Meinst du allen Ernstes, dass die zweimal den gleichen Ort nehmen würden?«
»So abwegig ist das gar nicht«, entgegnete sie.
»Dann vergiss du bitte nicht, dass ich beim Militär war«, sagte ich. »Sogar Feldwebel.«
»Wie genau schützt dich das vor einem verrückten Selbstmordattentäter oder einem rasenden Lastwagen?«, fragte sie.
Oder einem kaputten Gasherd in einem ganz gewöhnlichen Sommerhaus, hätte ich erwidern können. Aber ich ließ es bleiben.
Stattdessen musste ich feststellen, dass jemand nebenan den Fernseher eingeschaltet hatte. So laut, dass man jedes einzelne Wort verstehen konnte. Ich seufzte und ging in die entgegengesetzte Ecke meines Zimmers. Aber es machte keinen Unterschied.
»Was ist denn da plötzlich so laut?«, fragte Mama. »Hast du den Fernseher angemacht?«
»Nein«, antwortete ich. »Der Nachbar auf der anderen Seite der Wand.«
Wir schwiegen einen Moment. Der Moderator sprach von der Problematik, dass immer mehr Kinder Allergien entwickelten. Mein Nachbar gähnte laut, und ich hätte schwören können, dass ich sogar hören konnte, wie er sich kratzte.
»Wie sieht es in dir aus?«, fragte Mama.
»Unverändert«, antwortete ich. »Und in dir?«
»Ich finde das immer noch so unwirklich«, sagte sie. »In einer Woche muss ich wieder an die Uni, dann läuft meine Krankschreibung aus. Aber ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll.«
Mama war Bibliothekarin und hatte eine Zeit lang Literaturwissenschaften studiert. Sie arbeitete seit vielen Jahren für die Hauptbibliothek der Universität Örebro, sprang aber manchmal als Vertretung ein, um Vorlesungen in Literatur- oder Filmwissenschaften zu halten. Sie liebte das Lesen, besonders der Klassiker, und hatte der gesamten Familie die Augen für die Literatur geöffnet. Sie hatte mir Charles Dickens und Sofi Oksanen in die Hände gedrückt, und dank ihr hatten wir genauso gern Filme von Alfred Hitchcock oder Woody Allen gesehen wie Fernsehserien wie Homeland oder Modern Family.
»Es ist wichtig, dass du arbeiten gehst«, sagte ich. »Du musst wieder in die Spur kommen.«
Mama seufzte.
»In der Theorie klingt das ja auch toll. Aber heute stand ich im Supermarkt und hatte keine Ahnung, warum ich dort war. Mir war klar, dass ich einkaufen wollte, aber ich konnte den Einkaufszettel nicht finden und mich nicht daran erinnern, was ich brauchte. Und dann wollte ich deinen Vater anrufen … In dem Moment war mir klar, dass ich nach Hause musste. Ich bin mir einfach nicht sicher, ob ich das mit der Arbeit schon wieder hinbekomme.«
Mein Nachbar stellte den Fernseher leiser. Nahm offenbar sein Telefon zur Hand und rief jemanden an. Es klang so, als stünde er mitten in meinem Zimmer, und ich versuchte, das Mikro meines Handys abzudecken.
»Hey, Tompa«, sagte er laut. »Hier ist Sixten …! Ja, Scheiße, oder …?«
Mehrere Sekunden Stille.
Ich dachte nach.
»Ich kann wieder nach Hause kommen und dich unterstützen«, sagte ich. »Was ich hier mache, ist sowieso völlig sinnfrei.«
»Nein«, sagte Mama mit Nachdruck. »Ich will, dass du in Stockholm bleibst und dein Leben anfängst. Nach dem, was im Winter passiert ist, hast du …«
Sie zögerte.
»Ein bisschen neben dir gestanden«, vollendete ich den Satz.
»Nein, aber es ist einfach verdammt viel auf der Arbeit, du weißt ja, wie das ist«, sagte Sixten.
»So könnte man es nennen«, sagte Mama. »Und dann dazu noch das mit Papa. Du musst weg von zu Hause, das spüre ich. Sonst bleibst du in der Trauer hängen.«
Ganz wie du, dachte ich, sprach es aber nicht aus.
»Wie geht es Lina?«, fragte ich. »Ist sie im Stall?«
»Ja«, sagte Mama. »Und gerade für sie ist es wichtig, dass du und ich weitermachen. Sonst droht die nächste Depression.«
Lina, meine geliebte, pferdeverrückte Schwester. Ich sah sie vor mir, wie ich sie immer im Gedächtnis hatte: eine charmante, freche Zwölfjährige mit Lachgrübchen und blondem Pony, der unter der Reitkappe hervorlugte, ein kleiner Mensch, der fast alles tun würde, um andere froh zu machen, egal ob Mensch oder Tier. Lina riss es zwischen extremen Gefühlen hin und her: Freude und Verzweiflung, Hoffnung und Resignation, aber brachte man sie zum Lachen, kam sie sofort wieder in die Balance. Zwischen uns lagen sechs Jahre, mittlerweile war Lina jedoch keine kleine Mittelstufenschülerin mehr – sie war achtzehn Jahre alt und im letzten Jahr am Gymnasium. Im Herbst hatte sie mit den Vorbereitungen für die Schwedischen Meisterschaften im Vielseitigkeitsreiten begonnen, aber nach Papas Tod und allem Drumherum hatte sie aufgehört zu trainieren und war in eine Depression verfallen. Es war uns gerade erst geglückt, sie wieder in den Sattel zu setzen, insofern verstand ich sehr gut, was Mama meinte.
»Aber ich dachte halt, scheiß drauf. Es wird wirklich Zeit, Tompa wiederzusehen und ein Bierchen zusammen zu trinken«, brüllte Sixten nebenan.
Er klang sehr überzeugend.
»Wer schreit denn da so?«, fragte Mama. »Hast du Besuch?«
»Nein, das ist mein Nachbar im Zimmer nebenan«, erklärte ich. »Ist ziemlich hellhörig hier.«
»Klingt nicht gut«, sagte Mama. »Ich mache mir trotz allem ein bisschen Sorgen. Ich habe mit Björn gesprochen, und er war auch betrübt über deine Situation.«
Björn war einer von Papas Kollegen, der über die Jahre zu einem Freund der Familie geworden war. Eigentlich war er ein ziemlicher Playboy, aber nach Papas Tod hatte er sich sehr für uns eingesetzt. Trotzdem fand ich es nicht gerade toll, dass ich Thema zwischen ihr und Björn war.
»Warum sprichst du mit Björn über mich?«, fragte ich. »Er hat doch nichts mit mir zu tun.«
»Björn will nur das Beste für dich und Lina«, sagte Mama. »Er war eine wunderbare Hilfe, das musst du zugeben.«
Nachdem Papa in unserem Sommerhaus verbrannt und die Familie zusammengebrochen war, hatte Björn das Ruder übernommen und sich um alles Schwierige gekümmert: die Identifizierung; den Kontakt mit der Polizei; die Traueranzeige in der Zeitung; die Beerdigung.
»Genau wie Fabian«, fuhr Mama fort. »Ich bin so dankbar dafür, dass die alten Freunde deines Vaters uns unterstützen und noch immer an dich und Lina denken. Meiner Meinung nach sollten wir so viel Hilfe und Unterstützung annehmen, wie wir können!«
Fabian war Papas bester Freund aus Studienzeiten und ihm