Paul Schneider – Der Prediger von Buchenwald. Margarete Schneider
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Dazu kam das Ende der Monarchie in allen Teilen Deutschlands samt dem Abschied vom Kaiserreich. Die Monarchien waren – bei allen gelegentlichen Konflikten zwischen Hofprediger und Monarch – nach dem Modell des »landesherrlichen Kirchenregiments« durch Jahrhunderte wesentliche Stützen und Schutzmächte der Kirchen gewesen. In mehreren Teilen Deutschlands versuchten jetzt – freilich mit kurzfristigem Erfolg – Kommunisten, die Regierungsgewalt an sich zu reißen. Sozialdemokratie und Zentrum gingen weithin aus den harten und zum Teil blutigen Konflikten als politische Sieger hervor. Beide Kräfte standen den im evangelischen Pfarrhaus Aufgewachsenen fern. Dazu kamen der Versailler Friedensvertrag, der am 28. Juni 1919 unterzeichnet werden musste, die maßlosen Reparationsforderungen der Siegermächte, die Deutschland fast bis zum Ende des Jahrhunderts in eine Art Schuldknechtschaft versetzen sollten und durch die an einen Neuaufbau deutscher Wirtschaft nicht zu denken war; die Abtretung von Elsaß-Lothringen, des oberschlesischen Industriegebiets, der Provinzen Posen und Westpreußen, des Memellandes, des Saargebiets und der deutschen Kolonien sowie die Beschränkung des deutschen Heeres auf hunderttausend Mann. All das hat den national eingestellten Deutschen tief deprimiert.
Noch heftiger waren der Schmerz und die Empörung über den Artikel 231 des Versailler Vertrages, die These von der alleinigen Schuld Deutschlands am Weltkrieg, mit der begründet wurde, dass allein Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle entstandenen Verluste und Schäden verantwortlich seien. Vor allem dieser »Kriegsschuldparagraf« demütigte die Deutschen und gab bald alten und neuen nationalistischen Bewegungen Auftrieb. Auch in kirchlichen Kreisen wurde »die Kriegsschuldlüge« als Schmach empfunden. Sie vor allem bewirkte es, dass Nationalisten in völliger Verdrehung der Tatsachen die »Dolchstoßlegende« aufbrachten. Dieser zufolge ist die »Heimat«, besonders kommunistische und sozialdemokratische Politiker, der heldenhaft kämpfenden deutschen Armee mit einer Art »Dolchstoß« in den Rücken gefallen. Dadurch hätten sie ihren endgültigen Sieg verhindert. Hauptsächlich die Dolchstoßlegende trug dazu bei, dass Politiker, die im November 1918 den Waffenstillstand geschlossen hatten, bald als »Novemberverbrecher« bezeichnet wurden.
Nach dem Kriegsende war es aus mit Pauls Neigung zur Medizin, mit »reinem Willen zum Pfarrerberuf« wollte er beitragen zur Gesundung des Volkes. Aber wie stand er zur Theologie? »In der Schule hatte mir ein liberaler Religionsunterricht das Mysteriöse, priesterlich Geheimnisvolle, mich immer wie Aberglauben Anmutende an der Religion bzw. dem Inhalt der neutestamentlichen Geschichten genommen, sodass mir das theologische Studium je und dann in freundlichen Farben erschien« (Tagebuch). So fing denn Paul in Gießen bewusst mit dem Studium der liberalen Theologie17 an. Ein Freund18 berichtet darüber: »Wir hatten vom Gymnasium her eine innige Freundschaft, die in den Gießener Semestern fast zu zerbrechen drohte infolge des radikalen Liberalismus, dem Paul sich völlig verschrieben hatte. Es verging kein Tag ohne heftige theologische Auseinandersetzung auf dem Weg zur und besonders von der Universität zum Bahnhof und im Zug. Paul konnte darüber das Aussteigen vergessen, und oft musste ich ihn dazu ermahnen. Er führte das Gespräch dann vom Trittbrett weiter und sprang vom fahrenden Zug ab. Pauls Eifer für die ›Wahrheit‹ ging bis zum Äußersten, er hätte ihm sogar die Freundschaft geopfert, wenn er es für nötig gehalten hätte. Ich glaube aber heute, dass unsere Kämpfe die Vorbereitungen seines späteren Wandels waren, der dann ebenso klar und stark zutage trat.«
In Gießen lernte der Student Schneider vor allem von den Professoren Hermann Gunkel und Wilhelm Bousset, die beide anerkannte Religionswissenschaftler und Häupter liberaler Theologie waren. Hermann Gunkel19 erforschte vor allem Formen und Gattungen der alttestamentlichen Texte. Professor Wilhelm Bousset20 war ein bedeutender Kenner der Religionsgeschichte, vor allem des Urchristentums und der frühen Kirche.
Vater Schneider war Wingolfit21; Paul trat in Gießen und Marburg in diese Studentenverbindung ein. »Ist die Verbindung die Opfer an Zeit und Geld wert? Entspricht dem auch der Gewinn? Diese Frage und Hang zur Einsamkeit, Scheu vor der Gesellschaft lassen mich beinahe zurückschrecken. Aber ein innerstes Pflichtgefühl, das mich heißt, die angeborene Neigung zum Träumen und zur Bequemlichkeit zu überwinden, hält mich doch der Farbe schwarz-weiß-gold treu. – Wenn du unentschlossen bist zwischen zwei Dingen, so wähle das dir weniger Bequeme« (Tagebuch). – In Gießen wurde er in den ersten Semestern dann auch tüchtig in das Verbindungsleben mit hineingezogen. Daneben trieb ihn der Niederbruch Deutschlands 1919 dazu, sich immer wieder mit Kommunismus und Sozialismus22 zu beschäftigen. »Der Bolschewismus23, ein Widerspruch in sich selbst, da ein Zustand, der nur durch die Liebe des Einzelnen zur Allgemeinheit und seinen guten Willen bedingt sein kann, mit Gewalt eingeführt werden soll. Und dieses gewaltsame Einführenwollen kann letztlich nicht dafür zeugen, dass die Vertreter dieser gewaltsamen Einführung, der Putsche und Streiks, diese Vorbedingung des sozialen Staats erfüllen. Das Proletariat 24 soll herrschen, bis alles sozialisiert ist. Aber allein durch die äußere Sozialisierung tritt doch nicht ein Umschwung der Gesinnung ein, und so müsste die Sozialisierung zu einer dauernden Diktatur des Proletariats 25 werden, womit nichts erreicht wäre, weil bei diesem noch weniger als bei den Bürgern die Vorbedingung sozialer Zustände, sittlicher sozialer Gesinnung gegeben ist. Versittlicht das Volk, macht die Menschen besser, dann nähern wir uns ganz von selbst dem sozialen Staate!« (Tagebuch). – Im Wintersemester 1920 war Paul in Marburg. Hier herrschte im Wingolf ein strammer Korporationsgeist26; Pauls Reformpläne, die auf Beseitigung des Frühschoppens hinzielten und dem Turnen mehr Raum geben wollten, fanden keinen Anklang. Er belegt einen Turnlehrerkursus und legt 1921 das staatliche Turnlehrerxamen ab. Er übt Orgel und gibt Nachhilfestunden.
Der Frühling 1920 führt Paul nach Tübingen. Die Wohnungsnot ist groß, er bittet im Weilheimer Pfarrhaus um Aufnahme. Er erlebt nun zum ersten Mal einen großen Familienkreis und ist in die Familiengemeinschaft aufgenommen. Sein bescheidenes, ruhiges, dann wieder jungenhaft übermütiges Wesen erinnert an den gefallenen Theologensohn27.
In einer unveröffentlichten, reich bebilderten »Chronik der Familie Dieterich«28 beschreibt Marie Luise Dieterich, die ältere Schwester von Margarete, der späteren Frau Paul Schneiders, dessen Auftreten und Verhalten im Weilheimer Pfarrhaus: »Der letzte Student, der um Quartier bat, war Paul Schneider, ein Pfarrersohn aus Hochelheim, Rheinhessen. Er hatte sich mit einem Studienfreund auf den Weg nach Tübingen gemacht. Beide gewannen in den benachbarten Pfarrhäusern Kilchberg und Weilheim einen behaglichen Unterschlupf und verloren dabei ihr Herz. Einen froheren Menschen wie Paul Schneider gab es auf der ganzen Welt nicht, und das ganze Haus und seine Bewohner nahmen ihn so gern auf, als wäre er ihr Eigener. Selbstverständlich begleitete er unsere Jüngste morgens nach der Stadt, sie in die Arbeitsschule, er ins Kolleg; selbstverständlich saß er abends am Esstisch, wo ihm alles schmeckte, Aufgewärmtes vom Mittag oder frisch gekochte Pilze. Dafür half er beim Gießen im Garten, schüttelte die ersten Zwetschgen vom Baum. Er holte auch auf Bitte die Elsternnester von der hohen Tanne herunter und sang und sang, dass es durch’s weite Tal schallte. Sonntagmorgens setzte er sich gern ans Klavier, um einen Choral zu spielen, und war gern Zuhörer in der Kirche, um hintendrein mit Vater die Predigt zu diskutieren. Schade, dass das Sommersemester so kurz war, aber das zarte Band hielt und riss nicht ab.«
Zwei junge Menschen gehen täglich den Weg zur Stadt, er zur Uni, sie, gerade der Schule entwachsen, in die Frauenarbeitsschule, treffen sich über Mittag im Kahn auf dem Neckar – und sind versonnen und versponnen in ein unausgesprochenes Glück. Beim Abschied meint er sprechen zu müssen – es ist noch zu früh. Zwei Jahre gehen ins Land, bis sie sich ganz finden und von da an Hand in Hand durch vier Jahre Brautzeit wandern; der »eine Stab des andern und süße Last zugleich«! Immer mehr bietet eins dem andern Heimat, kann eins das andere seelsorgerlich tragen.
Das Weilheimer Pfarrhaus, aus dem Margarete, gen. Gretel, Schneider, geb. Dieterich, kommt: Ihr Vater, Karl Dieterich (1856–1927), stammt aus einer württembergischen Familie, in der seit seinem siebenten Vorfahren, dem Ulmer Münsterprediger und Professor Chunrad Dieterich (1575–1639), von