Europas kleine Tiger. Christine Sonvilla
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Der Tenor war eindeutig, der Wildkatze sollte der Garaus gemacht werden. Als kolportierter Schädling des Niederwildes verlangten alle Jagdordnungen, das Tier auszurotten.17 Man müsse »rastlosen Krieg gegen diesen Erbfeind« führen.18 Und wenn selbst der Leiter einer Zoologischen Abteilung für Forst- und Landwirtschaft betont, dass die Wildkatze zu den »schädlichsten Raubtieren unserer Heimat« gehöre, ist es denkbar schwer, eine abweichende Meinung hochzuhalten.19 Ein anderer Mann vom Fach, Alfred Brehm, der zur Mitte des 19. Jahrhunderts an einer zoologischen Enzyklopädie arbeitete, versuchte sich zumindest in einer Ehrenrettung. Er verwies auf frühe Analysen zur Nahrungszusammensetzung, die kleine Säugetiere als Hauptteil der Beute identifizierten, und meinte selbst: »Zum Glück für die Jagd besteht ihre gewöhnliche Nahrung in Mäusen aller Art und in kleinen Vögeln.« In diesem Licht erscheine es weiters sehr fraglich, »ob der Schaden, welchen die Wildkatze verursacht, wirklich größer ist als der Nutzen, welchen sie bringt«. Sie vertilge mehr schädliche als nützliche Tiere und »macht sich dadurch, zwar nicht um unsere Jagd, wohl aber um unsere Wälder verdient«.20 Im Chor des jagdlich-wissenschaftlichen Mainstreams der Zeit verhallten diese Erkenntnisse jedoch ungehört. »Vielleicht entsprach es einfach dem Selbstverständnis der Jäger in ganz Mitteleuropa, die Bevölkerung nach der weitgehenden Ausrottung von Luchs, Bär und Wolf von einem weiteren Raubtier befreien zu müssen. Nach dem Motto: je wilder der Gegner, desto größer der Ruhm des Jägers«, mutmaßt etwa der Schweizer Wildkatzenexperte Darius Weber, wie es zu der ehemals fatalen Betriebsblindheit kommen konnte.21
Die perfekten Jägerinnen
Von allen Landraubtieren sind Katzen, was ihren Körperbau und ihre Sinne angeht, am besten auf das Beutemachen spezialisiert.22 Die Wildkatze bildet da keine Ausnahme. Geduckt schleicht sie dahin, lauert ihrer Beute auf oder pirscht sich gewieft heran, um dann blitzschnell im Sprung zuzuschlagen. Während Fuchs oder Wolf gleich die Zähne nutzen, greift die Wildkatze ihre Beute zuerst mit den Krallen der Vorderpfoten. Dann erst bringt sie ihre dolchartigen Eckzähne zum Einsatz, die so wie das restliche Gebiss spätestens nach sechs Monaten vollständig entwickelt sind.23 Die Backenzähne wirken allerdings selbst im finalen Stadium wenig beeindruckend, zusammengeschrumpft auf kümmerliche Reste sind sie ein klares Indiz dafür, dass Wildkatzen zu den Fleischfressern zählen. Alle rund drei Dutzend Katzenarten gelten in der Biologensprache sogar als Hypercarnivoren, sprich als reine Fleischfresser.24 Dabei haben es unsere Wildkatzen in erster Linie auf flinke, kleine Nagetiere abgesehen. Die bislang umfangreichste Analyse zum Mageninhalt von Wildkatzen aus Deutschland, die Teil des Projekts FELIS der Justus-Liebig-Universität Gießen war, hat aus 152 Mägen satte 660 Beutetiere zutage gefördert, wovon sich 87 Prozent als Nagetiere entpuppten.25 Alfred Brehm hatte also bereits den richtigen Riecher. Überhaupt kamen sämtliche Untersuchungen der jüngeren Gegenwart – zumindest für Mitteleuropa – zu dem Schluss, dass sich Wühlmäuse und unter diesen vor allem Feldmäuse vor Felis silvestris in Acht nehmen müssen.26
Wer den Magen einer toten Wildkatze näher in Augenschein nimmt, kommt mitunter regelrecht ins Staunen, nicht ob der Größe, sondern ob der Menge der vertilgten Beutetiere. Noch weitgehend unverdaut reiht sich manchmal Maus an Maus. Mehr als 20 Nager können die Forscher in einem einzigen Wildkatzenmagen vorfinden.27 Neben Feldmäusen und anderen Wühlmäusen wie der Rötelmaus finden sich darunter auch etliche Vertreter der Echten Mäuse wie etwa die Waldmaus oder verschiedene Arten aus der Familie der Spitzmäuse. Singvögel, Reptilien, Amphibien und Insekten sind dagegen beutetechnische Randerscheinungen.28 Ameisen oder Fliegenpuppen rangieren wohl eher unter der Rubrik »Beifang«. Die neun Maikäfer im Magen einer untersuchten Wildkatze dürften aber nicht per Zufall dorthin gelangt sein. Sie waren offenbar ein willkommener Snack. Amphibien scheinen dagegen in doppelter Hinsicht einen bitteren Beigeschmack zu hinterlassen. Nur zwei der analysierten Wildkatzen des FELIS-Projektes hatten einen Frosch verspeist, in einem Fall bedeutete diese Mahlzeit sogar das Todesurteil für die Jägerin selbst. Sie erstickte nachweislich am Froschlaich, den sie wieder auszuwürgen versuchte.29
Dann doch lieber an die Mäuse halten. Aber Wildkatzen gleich als ausschließliche Mäusespezialistinnen abzustempeln, ist vielleicht etwas vorschnell. Im mediterranen Klima der Iberischen Halbinsel sieht es beutemäßig nämlich ein wenig anders aus. Dort stehen Kaninchen ganz oben auf dem Speisezettel der Wildkatze, die Beuteauswahl ist generell diverser und überall, wo Kaninchen vorhanden sind, werden sie den Mäusen vorgezogen.30 Die Forschung redet daher von der Wildkatze mittlerweile lieber als fakultativer Nahrungsspezialistin.31 Sie gibt sich also durchaus flexibel, wenn sie die Wahl dazu hat.
Im Winter ist es am schwierigsten über die Runden zu kommen. Während Fledermäuse einfach abhängen, Eichhörnchen nur gelegentlich ihren Kobel für eine Nuss verlassen oder Braunbären den größten Teil der kalten Zeit verschlafen, müssen Wildkatzen trotz der im Herbst angefutterten Fettreserven weiter Beute machen. Bei dicken Schneedecken, wenn sich die kleinen Nager gut verstecken können, gestaltet sich das alles andere als leicht. Da kommt eine gute Portion Opportunistentum gerade gelegen. Dieses äußert sich insofern, als sich Wildkatzen gelegentlich an den Überresten gerissener Beutetiere von Luchs und Wolf gütlich tun.32 Zu anderen Zeiten verschmähen sie zwar Aas, aber wenn die Optionen schrumpfen und der Hunger wächst, gilt es Alternativen zu finden. »Hier bei uns in Polen überleben die Wildkatzen schneereiche Winter praktisch nur wegen der Aktivität von Wolf und Luchs«, erzählt mir Henryk Okarma von der Universität Krakau. Allerdings müssen die kleinen Tiger auf der Hut sein. Während Wölfe einen Kadaver rasch verspeisen und die Reste dann zurücklassen, kehren Luchse über vier, fünf Nächte regelmäßig zu ihrer Beute zurück und bleiben während dieser Zeit oft in nächster Nähe. Eine Wildkatze sollte sich beim Mitnaschen möglichst nicht auf frischer Tat von ihrem »größeren Bruder« – mit dem sie übrigens nicht näher verwandt ist – ertappen lassen. Das könnte für sie ähnlich unangenehm werden wie der im Rachen stecken gebliebene Froschlaich.
»Wildkatze frisst drei Hühner und ein Ferkel in Tropoja«, so lautet die Überschrift einer albanischen Zeitungsmeldung vom November 2015.33 Einbrüche von Wildkatzen in Bauernhöfen und Hühnerställen stehen alles andere als auf der Tagesordnung, wenn aber die Not im Winter groß ist, sich weder Mäuse noch verwertbare Kadaver finden, gehen Wildkatzen mitunter dieses Wagnis ein.34 »Was sie anzieht, sind vor allem Scheunen, in denen Heu oder Getreide gelagert wird, denn dort tummeln sich für gewöhnlich viele Mäuse. Manchmal attackieren sie aber auch Haushühner, wenn diese sich gerade anbieten«, lässt mich Henryk Okarma wissen. Aus Griechenland sind Forscherin Despina Migli bisher zwei solcher Fälle bekannt: »Ein Bauer fing die Katze in seinem Hühnerstall mit einem Einkaufswagen aus dem Supermarkt. Er rief uns an, damit wir das Tier abholen und möglichst weit von ihm entfernt wieder freilassen.« Im anderen Fall hielt der Landwirt die eingefangene Wildkatze zunächst für einen Dachs und versuchte sie zu erschießen. Aber auch dieses Tier konnte gerettet und wieder freigelassen werden. »Genauer gesagt ist es entkommen – es hat sich nach seiner Genesung quasi selbst befreit«, ergänzt Migli von der Aristoteles-Universität in Thessaloniki. Sie kann sich gut vorstellen, dass es noch weitere Vorfälle dieser Art gibt, die allerdings nicht alle ans Licht kommen.