Europas kleine Tiger. Christine Sonvilla
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Verfolgt und verhasst
Nicht immer in der Vergangenheit wurden Wildkatzen und andere Raubtiere – oder Beutegreifer, wie man sie heute oft bezeichnet – mit Argwohn beäugt. Im Mittelalter und bis zur Renaissance bewunderte man ihre Gerissenheit und fand es erstrebenswert, sie dennoch zu überlisten und zur Strecke zu bringen. Wer etwa Fuchs- oder Adlerfleisch verspeiste, was freilich den Adeligen vorbehalten blieb, hoffte damit auch gleichzeitig deren Schläue und Scharfsichtigkeit zu erwerben. Jagdabhandlungen aus dem Mittelalter thematisieren zwar durchaus die Gefährlichkeit verschiedener Wildtiere, aber abgesehen vom Wolf, der nie besonders viele Freunde hatte, finden sich keine Aufrufe dazu, diese Arten massiv zu reduzieren.37
Mit der Barockzeit wurde die Trendwende eingeleitet. Absolutistische Herrscher veranstalteten großangelegte Treibjagden und versuchten sich damit gegenseitig zu übertrumpfen. Je mehr Wild zusammengetrieben werden konnte, desto besser, desto größer ihr Ruhm und Ansehen. Quantität dominierte die folgenden Jahrzehnte und Jahrhunderte. Doch durch den zunehmenden Einsatz von Waffen und die intensivierte Verfolgung gingen die gewohnten Jagdstrecken, also die Anzahl der erlegten Wildtiere, allmählich zurück. Damit begann auch die Suche nach Feindbildern. Da Wolf, Bär und Luchs im 18. und spätestens zur Mitte des 19. Jahrhunderts schon weitgehend ausgerottet waren, wurde der Schwarze Peter der Wildkatze beziehungsweise allen verbliebenen Raubtieren zugeschoben. Die Kategorien »Nutzen« und »Schaden« – die auch heute noch im menschlichen Denken ihr Unwesen treiben – verhärteten sich zusehends und resultierten in einer Ideologie, die die Vernichtung aller fleischfressenden Tiere zugunsten des »Nutzwildes« forcierte. Wenn alles »Schadwild« – von Wildkatze über Fuchs bis Steinadler und Co – erst eliminiert wäre, so die Milchmädchenrechnung, könnten die Menschen wieder gesteigerte Abschüsse des sogenannten »Nutzwildes«, also von Rehen oder Hirschen, erzielen.38 Dass Beutegreifer für die Stabilität, Balance und Gesunderhaltung der Ökosysteme, in denen sie leben, von fundamentaler Bedeutung sind, war damals noch niemandem bewusst. Man freute sich eher darüber, Prämien für erlegtes Raubwild ausgezahlt zu bekommen. Der Ritter von Kobell gibt in seinen bayerischen Jagdgeschichten einen Einblick, in welcher Höhe diese ausfielen. Für den Umkreis des Tegernsees spricht er von einem »Schußgeld« von 1 Florint in den Jahren 1606 und 1750. Allerdings sei die Wildkatze nur einmal im Verrechnungszeitraum zwischen 1734 und 1786 aufgeschienen, was wohl an der Seltenheit der Tiere in Bayern liege.39 Ein Florint entspricht einem Reichsgulden, der wiederum 60 Kreuzer wert war. 1741 erhielt ein Maurer einen Tageslohn von 24 bis 40 Kreuzern, als Hofstuckateur um 1770 gab es dagegen schon ein bis zwei Gulden pro Tag.40 Das Erlegen Wildkatze wurde offenbar nicht schlecht bezahlt.
Fang- und Abschussprämien für verschiedene Raubtiere waren in vielen Ländern Mitteleuropas bis zum Ersten Weltkrieg üblich, teils auch darüber hinaus.41 In Frankreich flossen sogar bis in die 1970er-Jahre Prämien für Wildkatzen.42 Befeuert wurde die Verfolgung indirekt durch die fortschreitende Rodung und Umwandlung der letzten Urwälder in monotone Forste. Damit verschwanden nicht nur zahlreiche Unterschlüpfe und damit wertvoller Lebensraum, sondern die Prämienritter hatten in den ausgeräumten Wäldern dazu noch leichteres Spiel, mit dem verhassten »Raubzeug« fertigzuwerden.43
Der Vernichtungsfeldzug zeigt Wirkung
Das einst ausgedehnte Verbreitungsgebiet der Europäischen Wildkatze, das sich abgesehen von Skandinavien über ganz Europa und Teile Vorderasiens erstreckte44, musste der aggressiven Verfolgung zusehends Tribut zollen. Ab dem 19. Jahrhundert ging es rapide bergab. In Deutschland dürfte es um die 1850er-Jahre zwar noch ganz gut um die Wildkatzenbestände bestellt gewesen sein, doch bis in die 1930er schrumpfte ihr Hoheitsgebiet auf wenige Refugien im Pfälzerwald, in der Eifel und im Harz.45 In der Schweiz galten die Samtpfoten für rund 25 Jahre überhaupt als ausgestorben,46 bis 1972 ein Silberstreifen am Horizont erschien. Michel Fernex, ein naturbegeisterter Medizinprofessor aus Genf, entdeckte am Glaserberg, unmittelbar nördlich der Schweizer Grenze im französischen Jura, eine Wildkatzenfährte.47 Tatsächlich verbarg sich dahinter eine kleine lokale Reliktpopulation, die auf einer Fläche von rund 30 Quadratkilometern überdauert hatte und vermutlich davon profitierte, dass das Gebiet während des Zweiten Weltkrieges evakuiert worden war und mit der Zeit sukzessive verwilderte. Von dort aus breitete sich die Art wieder aus und um 1986 ließen sich die ersten verräterischen Pfotenabdrücke auch im schweizerischen Jura wieder ausfindig machen.48 Ob die Wildkatze wirklich ganz ausgerottet war oder doch in einem versteckten Winkel zu überdauern vermochte, bleibt für immer ein Rätsel. Ähnliches trifft auch für Österreich zu, allerdings mit einer noch ausgeprägteren Durststrecke. Im Süden, im Kärntner Rosental und in der Steiermark, hielt die Wildkatze am längsten durch, bis etwa 1952.49 Danach herrschte für rund 50 Jahre Funkstille, ehe ein Jäger versehentlich einen Wildkatzenkater am Rand eines Maisfeldes im Klagenfurter Becken erlegte. Das war 1996. Zehn Jahre später das nächste »Lebenszeichen«, im Gailtal wurde ein junges Männchen überfahren.50 Der Weg zurück ist zäh.
Fell, Fleisch und Fett im Visier
Man möchte nicht glauben, wie viele Praktiken unsere Ahnen ausgeschöpft haben, um dem vermeintlich gefräßigen Treiben von Felis silvestris Einhalt zu gebieten. Alfred Brehm, der fast als Fürsprecher für die Tiere in die Bresche gesprungen ist, beschreibt in seinem ersten Band über »eine allgemeine Kunde des Thierreichs« lapidar: »Bei uns zu Lande erlegt man sie gewöhnlich auf Treibjagden.«51 Die Katzen versuchten dabei, sich vor den Hunden der Jäger auf die Bäume zu retten, tappten so in die Sackgasse und wurden einfach heruntergeschossen.52 Ein Zeitgenosse von Brehm empfahl acht verschiedene Fangapparate, um der Tiere habhaft zu werden.53 »Man […] läßt sie durch Hunde aus ihrer unterirdischen Wohnung herausholen, räuchert oder haut sie aus den hohlen Bäumen heraus, fängt sie wie den Marder in Schlagbäumen54, zieht sie durch den nachgemachten Laut eines Häschens oder einer Maus herbei oder lockt sie ins Tellereisen oder in den Schwanenhals durch einen frischen Vogel, den man mit Katzenkraut gerieben hat.«55
Ein solcherart präparierter Vogel baumelte als Köder vom Baum, direkt über einem Fangeisen, das darauf wartete zuzuschnappen. Zu »bethören und ans Eisen zu bringen« wären sie auch »durch eine Witterung aus Mäuseholzschale, Fenchel- und Katzenkraut, Violenwurzel«, die man in Fett oder Butter abdämpfen könne.56
Hätte es damals schon YouTube-Videos gegeben, hätte die Suchanfrage »Wildkatzen effizient ausmerzen« wohl Tausende Videos mit unzähligen Kommentaren und Likes ausgespuckt. Vielleicht wären auch gleich Anleitungen für die weitere Verwertung vorgeschlagen worden, nach dem Motto: Leuten, denen dieses Video gefällt, gefällt auch Folgendes. Foodblogger aus Frankreich und manchen Gegenden Deutschlands hätten Rezepte geteilt, wie das »gesunde, wohlschmeckende Fleisch« punktgenau zuzubereiten sei.57 Selbsternannte Alternativmediziner hätten ihren Followern geraten, das Wildkatzenfleisch »weich gesotten und warm aufgelegt« bei Gichtbeschwerden einzusetzen58 oder das Fett gegen »allerley Glieder-Kranckheiten« aufzutragen.59 Die Influencer der Heimwerkerabteilung wären nicht müde