Vernehmungen. Heiko Artkämper

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Vernehmungen - Heiko Artkämper

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sind teilweise von einer erschreckenden Parteilichkeit gekennzeichnet, die über Wochen und Monate hinweg das Neutralitätsgebot missachten und schon vorab unkritisch und laienhaft strafrechtlich relevante Schuldzuweisungen vornehmen. Es erfolgt beispielsweise eine eindeutig und einseitig gegen die Angeklagten gerichtete und damit einer sachlichen Aufklärung des Geschehens abträgliche Emotionalisierung des Verfahrens, die von allen Verfahrensbeteiligten bewusst oder unbewusst wahrgenommen wird.

       3.7.6.4Plädoyers, Beratung und Urteil

      333Dass die Freispruchquote nach dem zuvor Geschilderten eher marginal ist, wird nicht verwundern; sie ist im einstelligen Prozentbereich anzusiedeln. Gelangt das Gericht erwartungsgemäß zu einer positiven Beantwortung der Schuldfrage, gilt es die Straffrage – Art und Höhe der Sanktion, Maßregeln pp. – zu beantworten. Selbst hier wird die Entscheidungsfindung beeinflusst.

      334Das Phänomen des Ankereffektes stellt eine – wenn auch für das Strafrecht nicht unbestrittene19 – Erscheinung dar, die sich auf das Strafmaß auswirkt. In entsprechenden Versuchen wurde festgestellt, dass die Höhe der verhängten Sanktion entscheidend von der Reihenfolge der Plädoyers abhängt und der Antrag des Staatsanwaltes, der in der ersten Tatsacheninstanz als Erster einen „Anker“ setzt, sowohl den Antrag des Verteidigers(!!) als auch die Entscheidung des Gerichts in der Höhe beeinflusst.20

      335Entlarvend ist auch dieses dort geschilderte Experiment: „Die Forderung des Staatsanwalts stand … nicht in der Unterlage, stattdessen erhielt die Versuchsperson einen (gezinkten) Würfel. Sie würfelte und trug das Ergebnis selbst als Forderung des Staatsanwalts ein. Natürlich ergab das keinen Sinn, und den Beteiligten wurde auch gesagt, dass die seltsame Übung lediglich „Untersuchungszwecken“ diene. Doch es half alles nichts: Eine hohe Zahl führte wieder zu einer hohen Strafe.“ Alea iacta est!

      336Verbindet man diese Feststellung mit den – allerdings 25 Jahre alten – Untersuchungen von Albrecht,21 nach denen der Staatsanwalt überhöhte Strafanträge stellt, rundet dies ein – hoffentlich vergangenes – Bild ab: Die Hauptverhandlung und das Ringen um Strafe als Marktplatz und Bazar, auf dem überhöhte Preise und ein knappes Angebot nicht zu einem fairen Preis – einem richtigen Urteil – führen.

      337Dass gerade an dieser Stelle zusätzlich auch die Unwägbarkeiten der Strafzumessung und der Spielraumtheorie eine Rolle spielen, liegt auf der Hand. Die Theorie des sozialen Vergleichsprozesses lässt grüßen: Es wird vom Richter eine richtige Entscheidung bei adäquater Selbsteinschätzung erwartet, bei der objektive Maßstäbe für die Entscheidung fehlen.22 Der Richter wird sich an von ihm als kompetent und zuverlässig empfundenen Vergleichspersonen orientieren, wobei er den „neutralen“ Staatsanwalt (vgl. § 160 Abs. 2 StPO) favorisiert und den Verteidiger als einseitigen Interessenvertreter disqualifiziert bzw. ignoriert.

       3.8Zusammenfassung

      338Aufgabe und Ziel von Vernehmungen sind Umstandserhebungen im Strafverfahren, die Voraussetzungen schaffen, um bei weiteren Ermittlungen und in der späteren Hauptverhandlung die Wahrheitsfindung zu ermöglichen. Das erfordert die Erhebung nachvollziehbarer und/oder überprüfbarer Umstände. Diese sind frei von Wertungen festzuhalten und selbstverständlich genau zu dokumentieren.

      1Vgl. Rn. 343.

      2Dazu Rn. 1.

      3Linssen in Hermanutz/Litzcke, a.a.O., 230 ff.

      4In Anlehnung an Linssen, a.a.O., 233 ff.

      5Vgl. dazu Artkämper, Kommunikation, bestätigende Informationsverarbeitung und Ankereffekt im Strafverfahren, StRR 2012, 339 ff.

      6Strafrechtliche Rechtsprechung und Literatur zur Vertiefung des Ankereffekts und anderer dort genannter Prinzipien: BGH, Beschl. v. 1.8.2018 – 5 StR 228/18; Effer-Uhe, DRiZ 2020, 18 ff.; Wehowsky, NStZ 2018, 177 ff.; Gerson, NStZ 2018, 379 ff.

      7StV 2000, 159 ff.

      8Sommer, Effektive Strafverteidigung, Rn. 115 ff.; Baumann, Schuld und Bühne, SZ-Magazin 17/2012.

      9Vgl. Festinger, A Theorie of Sozial Comparison Processes, Human Relations 1954, Nr. 7, 117; Schünemann, Der Richter im Strafverfahren als manipulierter Dritter, StV 2000, 159 ff.(162).

      10Vgl. z.B. Barton, Einführung in die Strafverteidigung.

      11Interessante Beispiele bei: Schweizer, Bestätigungsfehler – oder wir hören nur, was wir hören wollen, Justice – Justiz – Giustizia, 2007/3 Rn. 3 ff.

      12Vgl. Schünemann, a.a.O., 159 ff. (160).

      13Vgl. Aronson u. a., Sozialpsychologie, 2008, 239 ff.

      14Schweizer, a.a.O., Rn. 19.

      15Bsp. bei Kaube, Wie entscheiden, worauf hören Richter?, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26.10.2003 und Paulus, Das vorletzte Wort, DIE ZEIT vom 16.10.2003.

      16Schünemann, a.a.O., 159 (162 f.).

      17Schweizer, a.a.O., Rn. 19.

      18Schünemann, a.a.O., 159 (160 ff.).

      19Vgl. z.B. Kaube, a.a.O.; Paulus, a.a.O., einerseits und Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, 371 f., andererseits.

      20Beispiele bei Paulus, a.a.O.

      21Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, 1994, 361 ff., 371 ff.

      22Schünemann, a.a.O., 159 ff.(162).

       4Transfer von Vernehmungen in die Hauptverhandlung

      339Die Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung folgt eigenen Spielregeln. Juristen – Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter – scheinen Kriminalisten oftmals im Wege zu stehen, wenn es um die Wahrheitsfindung geht; dies hängt, wie zu zeigen sein wird, damit zusammen, dass hier unterschiedliche Wahrheitsbegriffe unerkannt zugrunde gelegt und stillschweigend vorausgesetzt werden. Für Kriminalisten schwer verständlich – ja teilweise skurril – sind die Spielregeln in der Hauptverhandlung; es geht um die Frage, was wie rekonstruiert werden kann1 und an welchen Stellen Sachverhalte dem Urteil zugrunde zu legen sind, die dem Akteninhalt und dem tatsächlichen Tatgeschehen teilweise diametral entgegenstehen.2

       Beispiel:

      340Wenn etwa die Tochter einer Beschuldigten sich über den Polizeinotruf an die Polizei wendet, weil ihre Mutter gerade mit einem Messer auf den Vater eingestochen hat, so ist der erste Teil des Notrufes „Mama hat gerade mit einem Messer auf Papa eingestochen!“ auch bei Angehörigen als sogenannte Spontanäußerung, die von einem Strafverfolgungswillen getragen ist, verwertbar. Weitergehende Äußerungen der Tochter, die ohne Belehrung auf Nachfrage der Polizeibeamten erfolgen, unterliegen einem Verwertungsverbot. Auch wenn die Tochter noch während des Notrufes dann das weitere Tatgeschehen schildert und mitteilt, dass sie ihrer Mutter das

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