Verschollen am Nahanni. Rainer Hamberger
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Читать онлайн книгу Verschollen am Nahanni - Rainer Hamberger страница 6
Schon ist Uwe unterwegs. Schnell zieht er sich die Fliegerkluft wieder über. Die Maschine muss frisch betankt werden. Das Wetter sieht auch nicht einladend aus, aber dieser Flug erlaubt keine Verzögerung. Diane und ihr Mann stehen schon im Warteraum bereit. Im Koffer das Notwendigste fürs Krankenhaus. Ein Stoßgebet zum Himmel schickend verstaut Uwe die beiden in seiner Maschine. Trotz der Dringlichkeit absolviert er in aller Ruhe seine Startvorbereitungen. Die nächstgrößere Krankenstation ist eine gute Flugstunde entfernt, wenn das Wetter mitmacht.
„Alles wird gut. Versucht euch zu entspannen. Wir schaffen das rechtzeitig“, beruhigt er die werdenden Eltern.
Eine Geburt im engen Flugzeug, eventuell mit einer Notlandung, ist nicht gerade die Traumvorstellung eines Piloten. Immer wieder streift sein Blick die schwer atmende Diane auf dem Rücksitz. Wie gern wäre er mit Inge in dieser Situation gewesen. Beide hatten sie sich eine Familie gewünscht. Der Unfall veränderte alles.
Doch denkt Uwe zurück an die Zeit, als er Deutschland den Rücken kehrte und in Kanada Fuß fasste, müsste er fast dankbar für dieses eingreifende Ereignis in seinem Leben sein. Hier oben im Norden konnte er seine Leidenschaft für die Fliegerei berufsmäßig ausleben. Viele Freunde halfen beim Neuanfang. Allen voran John, bei dem er sich während des Krieges als Kriegsgefangener aufhielt. Ein ferner Verwandter von John lebte als Buschpilot in dieser einsamen Gegend und suchte dringend Verstärkung. Die Gelegenheit für Uwe! Sandy und er verstanden sich vom ersten Augenblick an. Eine langanhaltende Freundschaft begann.
Auf dem Rücksitz atmet Diane regelmäßig. Zum Glück werden die Wehen nicht stärker.
„Ich glaube, das Baby merkt, dass es noch etwas warten muss“, meint sie lächelnd, als sie erleichtert die blau blinkenden Lichter des Krankenwagens auf dem inzwischen sichtbar gewordenen Landefeld sieht. Dann übergibt Uwe den wartenden Sanitätern seine Passagiere. Ihm fällt ein Stein vom Herzen.
Das Funkgerät rauscht. „Hallo hier ist Sandy, kannst du mich hören? Das Wetter ändert sich. Es soll stürmisch werden. Das Risiko für einen Rückflug kannst du nicht eingehen. Bestimmt ist bis morgen das Unwetter durchgezogen.“
„Gut, wenn du meinst, werde ich mich in diesem aufstrebenden Ort heute Nacht amüsieren. Selbstverständlich auf deine Kosten!“
Uwe nimmt es gelassen. Sicher findet er eine Bleibe. Seine Gedanken weilen bei Diane. Hoffentlich geht alles gut. Im nächstgelegenen Motel beim Flugplatz bucht er ein Zimmer. Beim Öffnen der Türe gleitet ein Lächeln über sein Gesicht. Der etwas muffige Geruch, die einfache, aber saubere Ausstattung, die schräg hängende Jalousie, altmodische Baseboard Heater, die bei niedrigen Temperaturen für Wärme sorgen: Für ihn ist es das Kanada, das ihm nach all den Wirren seines früheren Lebens ein Gefühl von Heimat vermittelte, als er erstmalig hier Fuß fasste. Gerade diese Unzulänglichkeiten machen es so liebenswert. Dann am Morgen der erlösende Anruf: Der neue Einwohner für seinen Heimatort in der Wildnis kam wohlbehalten auf die Welt. Mutter und Sohn geht es gut. Auch Uwe freut sich für die Eltern. Soweit abseits von der Zivilisation in einer kleinen Gemeinde lebt es sich wie in einer großen Familie. Jeder kennt jeden. Das bedeutet auch jeder hilft jedem.
„Hallo Sandy. Gute Nachrichten hier. Die Curtiss haben einen Sohn und wie ist das Wetter bei euch? Da bring ich die drei doch gleich wieder mit zurück. Also dann bis später.“
„Wie viele Eier möchtest du zum Speck?“
fragt die freundliche Bedienung ihn am nächsten Morgen beim Frühstück.
„Ich glaube, heute vertrage ich drei mit vielen Bratkartoffeln und bitte einen starken Kaffee!“ Uwe freut sich auf das typisch kanadische Frühstück, das er sich normalerweise nicht gönnt, um sein Gewicht zu halten. Am Flugplatz erwartet ihn eine blasse, aber glücklich lächelnde Diane mit einem in Tüchern gewickelten winzigen Menschlein. „Der sieht aber wirklich seinem Vater sehr ähnlich“, kommentiert er das Bündel mit Blick auf den stolzen Erzeuger, wofür er einen freundschaftlichen Rippenstoß erhält. An der Maschine wartet schon ein junges Paar, das den außerplanmäßigen Flug wahrnimmt, um schneller zum Wanderziel im kanadischen Norden zu kommen. Bald darauf sticht die Beaver in den stahlblauen Himmel. Unwirklich ruhig verläuft der Flug.
Bereitwillig gibt Uwe Auskunft, was die jungen Leute in der Wildnis erwartet und worauf es zu achten gilt.
„Ihr könnt mit Joe noch mitfahren. Er wohnt dort oben. Dann spart ihr euch den Marsch die Straße entlang.“
Die Wanderer sind erstaunt, auf wie viel Hilfsbereitschaft sie stoßen.
„Alles klar zur Landung?“
Das übliche Prozedere. Vor dem Hangar haben sich viele Freunde versammelt, die den Neubürger mit lautem Hallo willkommen heißen. Uwe fühlt wie sich Müdigkeit seiner bemächtigt. Die Anspannung des vergangenen Tages macht sich bemerkbar. Sandy hilft ihm beim Befestigen der Maschine.
„Jetzt nimm dir erst mal einen Tag frei und geh fischen. Ich mach Wochenenddienst. Lisa verbringt ein paar Tage bei ihren Eltern. Meine Frau braucht mal wieder Tapetenwechsel!“
Gerne nimmt Uwe das Angebot an. Die halbe Meile zu seinem Mobile Home geht er zu Fuß.
„Hey Uwe, schön, dass du wieder da bist. Hat dich der Sturm nicht erwischt?“
Sein Nachbar streckt neugierig die Nase zur Türe hinaus. Er hat gleich gemerkt, dass in Uwes Trailer letzte Nacht kein Licht brannte. Eigentlich wie auf einem Dorf in Deutschland. Hier wird alles genau beobachtet, denkt Uwe und öffnet schmunzelnd die unverschlossene Tür. Das von außen unscheinbare Gebäude entpuppt sich in seinem Innern als gemütlich eingerichtete Junggesellen-Wohnung. Doch entgegen der landläufigen Meinung über alleinstehende Männer herrscht hier Sauberkeit und Ordnung. Küche und Esszimmer gehen ineinander über. Im Wohnzimmer steht eine ziemlich deutsch wirkende Schrankwand, die auch als Bücherregal dient. Bei genauem Hinschauen ist ein kleines oval geformtes Bild einer hübschen Frau zu erkennen: die junge Inge. Uwe lässt sich in den nächstbesten Sessel fallen. Dabei wird ihm seine Einsamkeit mal wieder bewusst. Trotz der vielen Jahre nach der Trennung von Inge wollte ihm bisher keine engere Beziehung mehr gelingen.
Eine heiße Dusche und das kalte Bier danach heben seine Stimmung etwas.
„Ja, Sandy hat recht, jetzt fahr ich mal übers Wochenende zum Fischen“, denkt er und packt wetterfeste Kleidung und Angelausrüstung in seinen vor der Tür geparkten Ford Bronco.
Der grau-schwarze Jeep sieht nicht nur chic aus, der Achtzylinder mit Allrad hat ihn bei seinen Ausflügen in die Wildnis bisher nie im Stich gelassen. Noch ist er unschlüssig, ob er seinen Zeltanhänger mitnehmen soll.
„Ach was, die eine Nacht roll ich mich in den Kofferraum. Da ist genug Platz.“
Nur fünfzig Meilen von hier kennt er eine gute Stelle am Fluss, wo er bisher erfolgreich beim Angeln war. Während der Fahrt durch die eintönige Landschaft überkommt ihn wohltuende Ruhe. Wie so oft wandern seine Gedanken zurück nach Deutschland. Würde er mit Inge in einem Reihenhaus leben, für dessen Abzahlung er jeden Monat aufkommen müsste? Oder wäre er wieder auf Inges finanzielle Unterstützung angewiesen wie damals? Keine angenehmen Erinnerungen.
Plötzlich steigt er reaktionsschnell auf die Bremse: Ein Elch überquert die Schotterstraße. Bewundernd schaut er dem Tier mit seinen mächtigen Schaufeln nach. Wieder einmal wird ihm bewusst, in welchem Paradies er zu Hause ist, auch wenn sich der nächste Supermarkt nicht um die Ecke befindet und das Unterhaltungsprogramm in der