Novembertod. Iris Leister
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Von Unverth hatte sein Amt im Sommer 1917 angetreten, nachdem der alte Regierungsrat, der seine Amtsgeschäfte vorwiegend von seiner Privatwohnung in Schöneberg aus getätigt hatte, in Pension gegangen war. Er hatte sich sein Büro im Präsidium komplett neu einrichten lassen. Die teure Einrichtung, die eingebaut wurde, obwohl ringsum Mangel herrschte, gab dem Gerücht Nahrung, von Unverth habe außer dem unermesslichen Reichtum, den seine Familie mit riesigen Ländereien in Pommern angehäuft hatte, auch noch einen sehr guten Draht zum Kaiser. Dieses Gerücht sorgte dafür, dass der Regierungsrat als eine Art graue Eminenz angesehen wurde. Man sah ihn nicht, man hörte ihn nicht, aber alle bemühten sich, ihre Sache möglichst gut zu machen, um es sich nicht mit den Mächtigen zu verscherzen.
Das Büro roch nach teurem Pfeifentabak und Leder. Von Unverth stand hinter seinem Schreibtisch. Auf der blankpolierten Schreibtischplatte lag offen die BZ am Mittag. Säuberlich gefaltet lag daneben ein Stapel anderer Zeitungen. Kappe konnte den Reichskurier mit seinem blutroten Namenszug und dem Reichsadler erkennen.
Von Unverth strich über die Zeitung, als wolle er sie glätten. Kappe beobachtete die stumpfen, weichen Hände mit dem Siegelring, die immer wieder über die Überschrift fuhren: Der Kaiser hat abgedankt. Thronverzicht des Kronprinzen. Ebert wird Reichskanzler. Von Unverth sah auf. Sein Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart zitterte. Kappe hoffte, er würde endlich anfangen zu reden. Er ließ ungeduldig seinen Blick schweifen. Galgenberg stand mit undurchsichtigem Gesicht da. Von Canow saß in einem der mächtigen grünen Samtsessel und sah besorgt aus. Kniehase hatte etwas Eilfertiges an sich. Kappes Blick streifte den viereckigen hellen Fleck an der Wand hinter von Unverth. Der Kaiser hatte tatsächlich abgedankt. Zumin dest hier an der Wand, dachte Kappe und fragte sich, wie von Unverth wohl wirklich über die Ereignisse dachte.
«Meine Herren», sagte der Regierungsrat. «Die Ereignisse zwingen mich, Ihnen Folgendes mitzuteilen. Unser gegenwärtiger Polizeipräsident, Herr von Oppen, gibt sein Amt an Herrn Eichhorn ab. Unsere Abteilung wurde, wie Sie wissen, überprüft. Sie bleibt erhalten, und ich bleibe im Amt. Sie sehen: Gute Arbeit lohnt sich.» Von Unverth begann abzuschweifen. Kappe sah ungeduldig aus dem Fenster. Ein Schwarm von armseligen Gestalten kam aus dem Gebäude und wurde von Frauen und Kindern freudig begrüßt. Kappe fühlte ein wenig Genugtuung. Das mussten die politischen Gefangenen sein.
«Kommissar Kappe, Sie interessieren sich wohl nicht für meine Ausführungen?» Von Unverth sah ihn unverwandt an. «Ich frage mich, ob Sie überhaupt bei der Sache sind. Was haben Sie eigentlich gemacht, während ich und Ihre Kollegen uns vor einem Revolutionskomitee rechtfertigen mussten?» Von Unverth sah nach draußen, wo die politischen Gefangenen immer noch auf die Straße strömten. Sein Schnurrbart zitterte wieder. «Sie haben die Politische Abteilung tatsächlich geschlossen.» Er schüttelte kaum merklich den Kopf und wandte sich wieder Kappe zu. «Nun? Sie haben doch nicht etwa mitdemonstriert?»
Kappe spürte die Blicke der anderen drei auf sich. Es war ihm klar, dass er von Unverth viele Fragen beantworten müsste, wenn er von seiner Suche nach Margarete erzählen würde. Fragen nach Margarete. Fragen nach seinem Umgang. Solange er nicht wusste, auf welcher politischen Seite der Regierungsrat stand, wollte er diese Fragen nicht beantworten. Also beschränkte er sich auf das Wesentliche. «Meine Frau ist auf der Straße zusammengebrochen. Ich musste sie ins Krankenhaus bringen. Sie ist hochschwanger.»
«Was ist eine der wichtigsten preußischen Tugenden, Kommissar Kappe?» Von Unverths Augen funkelten kalt.
Kappe schluckte. «Pflichterfüllung?»
«Na, ich sehe, bei Ihnen ist Hopfen und Malz noch nicht ver loren. Und im Fall einer hochschwangeren Ehefrau drücken wir mal ein Auge zu. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes.»
Kappe beobachtete verwundert, wie das kalte Funkeln in von Unverths Augen in Sekundenschnelle erlosch und einem jovialen Gesichtsausdruck wich. Fast, als wäre er zwei Personen, dachte Kappe. «Ich weiß es nicht, Herr Regierungsrat», sagte er. «Die Schwestern konnten mir nichts sagen.»
«Das wird schon, Herr Kappe. Hab das Vaterwerden selber fünfmal mitgemacht. Aber vergessen Sie vor lauter Sorgen nicht, dass das kriminelle Element nicht schläft.» Von Unverth sah in die Runde. «Das gilt für Sie alle. Wir sind hier, um gegen das Verbrechen zu kämpfen. Ganz gleich, welchem Herrn wir dienen müssen. Wir werden mit dem neuen Regime so gut wie möglich zusammenarbeiten. Tun Sie also Ihr Bestes, selbst wenn es vielleicht schwerfällt. Besprechung beendet, meine Herren.»
Die vier gingen schnell nach draußen. «Richten Sie Ihrer Frau gute Besserung aus», sagte von Canow, bevor er in seinem Büro verschwand.
Kniehase nickte. «Von mir auch.» Er verabschiedete sich in sein Labor. Zum Schluss liefen nur noch Galgenberg und Kappe den Flur zu ihrem Büro entlang. Kappe überlegte fieberhaft, unter welchem Vorwand er seine Suche nach Margarete wiederaufnehmen könnte. Er sah seinen Kollegen, der schweigend und mit verschlossenem Gesicht neben ihm her ging, von der Seite an. Ich könnte genauso gut auch nicht da sein, dachte Kappe. «Ich werde noch mal nach meiner Frau sehen», sagte er.
Galgenberg zuckte mit den Achseln. «Wenn Sie meinen, dass das hilft.»
«Ich denke schon.» Kappe hatte nicht vor, zum Krankenhaus Bethanien zu gehen. Er würde Margarete suchen.
Unter den Linden und am Brandenburger Tor blühten die roten Fahnen. Die Straßen waren schwarz von Menschen. Schaulustige hingen wie dicke Krähen in den kahlen Bäumen. Offene Lastautos kurvten durch die Massen, besetzt mit Soldaten, die rote Armbinden trugen. Auf manchen stand Soldatenrat. Kinder wuselten herum. Kappe schien es, als sei ganz Berlin auf den Beinen. Er driftete durch das revolutionäre Gedränge, immer auf der Suche nach Margarete, und fühlte sich dabei wie ein Fremder.
Die meisten Menschen schienen zum Reichstag zu streben. Kappe arbeitete sich bis zu dem klotzigen Gebäude vor, vor dem die Menschen wie Ameisen wimmelten. Abordnungen betraten den Reichstag, andere verließen ihn wieder. Plötzlich wurden Arme gereckt und Hüte geschwenkt. Kappe sah an der Fassade hoch, die sich klobig und grau in den Himmel reckte. Ein Fenster war aufgegangen, und ein schmaler älterer Herr, den Kappe an seinem Knebelbart als Philipp Scheidemann erkannte, lehnte sich weit hinaus und begann zu sprechen. Kappe verstand die Satzfetzen «Einig und stark» und «Es lebe das Neue, es lebe die Deutsche Republik». Die Menge jubelte. Beifall brandete auf.
Kappe wurde von einem sonderbaren Gefühl ergriffen. Das Kaiserreich und damit alles, was er bis dahin gekannt hatte, war wirklich und wahrhaftig untergegangen. Aber statt Wehmut spürte er vorsichtige Neugierde. Margarete fiel ihm wieder ein, und er lief weiter durch die Menge. Es wurde heftig diskutiert. Wer nicht verstanden hatte, was Scheidemann gesagt hatte, dem wurde es in einer Art Stiller Post weitergegeben. Immer wieder fand er sich in Menschenknäueln wieder, in deren Mitte rotwangige Zeitungsjungen den Vorwärts verkauften. Auch hier wurde den Jungen die Zeitung nur so aus den Händen gerissen. Kappe hastete weiter.
Am Abend hatte Kappe die ganze Stadt durchkämmt. Erschöpft lief er nun durch die schwach erleuchteten Straßen von Kreuzberg. Natürlich hatte er die ganze Zeit gewusst, dass die Chance, Margarete in dem Trubel zu finden, kleiner gewesen war als ein Sechser in der Kaiserlichen Lotterie. Ehemals Kaiserlichen Lotterie, fügte er für sich hinzu. Trotzdem - es war ihm bisher immer gelungen, die Nadel im Heuhaufen doch noch zu finden. Er fragte bei Margarete Klumps Zimmerwirtin nach. Die hatte sie seit heute Morgen auch