Novembertod. Iris Leister
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Rastlos lief er die Oranienstraße hinunter. Ihm war kalt. Kurz hinter dem Oranienplatz fiel Licht aus einer Speisewirtschaft auf die Straße. Das «Max und Moritz». Kappe war plötzlich nach einem Schluck Bier. Er öffnete die Tür. Lärm und der Geruch von Alkohol und Tabak schlugen ihm entgegen.
Der Eigentümer hatte sich persönlich die Einwilligung von Wilhelm Busch geholt, sein Lokal nach den beiden Buschschen Übeltätern zu benennen. Der Schriftsteller hatte die Genehmigung unter der Voraussetzung erteilt, dass es einmal die Woche Erbsensuppe gebe - was das «Max und Moritz» mittlerweile seit elf Jahren zu einer Institution in Kreuzberg machte. Das Lokal erstreckte sich über vier Stockwerke. In den ersten beiden waren die Speisesäle, im vierten die Büroräume und im dritten die hauseigene Fleischerei, die jetzt, in den Zeiten des Mangels, verwaist war. Auch die wöchentliche Erbsensuppe gab es schon lange nicht mehr.
Kappe wühlte sich durch die Menge bis zum Tresen. Im hinteren Saal gab es eine Versammlung. Als die Pendeltür aufschwang, sah er Margarete, die, eine Rede haltend, in diesem Augenblick aufsah und ihn entdeckte. Sie nickte ihm kurz zu und redete weiter.
Kappe hatte sich oft gefragt, was die Freundschaft zwischen Klara und Margarete ausmachte. Sie waren nicht lange Kolleginnen gewesen. Kurz nachdem Klara im Kaufhaus Hertzog angefangen hatte, wechselte Margarete zu Wertheim. Beide hatten sich erst vor zwei Jahren zufällig auf der Ritterstraße wiedergetroffen. Margarete hatte gerade die Nachricht bekommen, dass ihr Mann gefallen war. Klara hatte die todtraurige Margarete in ihre Wohnung geschleppt und sie vor eine Tasse heißen Ersatzkaffee gesetzt. Kappes mädchenhafte, manchmal durchaus kokette Klara, die sich für Filmdiven und Mode interessierte, und die nüchterne, politisch engagierte Margarete wurden dicke Freundinnen. Sie schienen auf geheimnisvolle Art aufeinander abzufärben: Klara interessierte sich plötzlich ein wenig für Politik, und Margarete verlor das Grimmige und begann wieder zu lachen.
Kappe kämpfte sich zu Margarete durch. Sie hatte ihre Rede beendet und passte ihn an der Pendeltür ab. Und dann war es, als ob eine Schleusentür geöffnet würde: Er redete und redete, erzählte ihr alles. Sie hörte zu. Stellte Fragen. Sie versprach, ihn gleich morgen früh um acht abzuholen und mit ihm ins Krankenhaus zu gehen. Dann musste sie sich wieder ihrer Versammlung widmen.
Kappe kam zurück in seine Wohnung. Die Öfen standen genauso da, wie er sie heute Morgen verlassen hatte. Die Ofenklappen waren offen, die Briketts nutzlos zu Aschekrümeln verbrannt. Auf dem Küchentisch standen zwei benutzte Kaffeetassen. Kappe schien es, als wäre dieser Morgen ein ganzes Jahrhundert her. Er legte sich in sein feuchtkaltes Bett und schlief einen faden Schlaf.
Nur wenige Kilometer entfernt saßen drei Männer vor einem Kaminfeuer. Der Hass und die Verachtung, mit denen sie über den vergangenen Tag sprachen, füllten den Raum wie ein giftiges Gas. Während sie auf einen vierten warteten, heckten sie einen teuflischen Plan aus. Der Plan war perfekt.
«Und wenn er nicht mitmachen will?», fragte einer der drei. Der Mann, der neben ihm saß, nahm den Schürhaken und schürte das Feuer. «Dann machen wir es ohne ihn», sagte er. An seinem Gesichtsausdruck war abzulesen, dass dies ein Todesurteil bedeutete. Ein weiteres Todesurteil.
Das Feuer loderte auf und tauchte die drei in glühendes Licht.
Sonntag, 10. November1918
DER BAU DES ZIRKUS BUSCH wölbte sich in die herabsinkende Dämmerung. Es sah aus, als würde diese die bunten Farben, in denen das Gebäude gestrichen war, seine Türmchen und Dächlein, die dem Rundbau der Manege vorgelagert waren, wegsaugen und nichts als trübes Grau hinterlassen. Auf dem spitzen Giebel des Hauptportals breitete der Metalladler seine schwarzen Flügel aus und starrte reglos auf die Menschenmassen, die sich unter ihm durch den Eingang schoben. Kappe fühlte sich klein und hilflos. Margarete wurde abgedrängt und stolperte. Sie wäre von den Nachfolgenden niedergetrampelt worden, wenn nicht Trampe und ein Postkartenhändler im abgeschabten Anzug ihr aufgeholfen hätten. Der Mann trug ein Drahtgestell vor dem Bauch, in dem Postkarten mit verschiedenen Motiven steckten.
«Danke, Genossen!» Margarete lächelte.
Der Postkartenhändler lächelte zurück. «Revolutionspostkarte, die Dame?», fragte er. «Glänzendes Souvenir, das. Nur 25 Pfennig.» Margarete kaufte ihm eine Karte ab. Dann wurde der Mann auch schon weitergestoßen und verschwand in der drängenden Masse, einem Meer aus fadenscheinigen Mänteln, zerschlissenen Anzugjacken und geflickten Uniformen. Fast alle trugen eine rote Armbinde.
Margarete zeigte ihre Postkarte: Vor dem Brandenburger Tor stand ein offener Mannschaftswagen, auf dem grinsende Soldaten eine Fahne schwenkten. Zivilisten standen um sie herum und bestaunten sie. Eine krakelige Aufschrift erklärte: Die Freiheitsbewegung in Berlin. Straßenszene am 9. November 1918. «Die bring ich Klara mit», sagte Margarete.
«Dass die heute schon auf dem Markt sind! Das war doch erst gestern.» Trampe staunte.
Kappe, dem der Schreck des vorangegangenen Morgens noch in den Knochen steckte, fragte sich, wie Margarete und Trampe inmitten dieser dicht an dicht drängenden und schiebenden Menschen, deren Geruch nach billigen Buchenlaubzigaretten, Hunger, Schweiß und Aufregung ihm plötzlich so intensiv vorkam, dass er sofort an Klaras geschärften Geruchssinn denken musste, so entspannt sein konnten. Das Alte war zerstört, und es war unsicher, was jetzt kommen sollte. Kappe, der nun sogar das brackige Wasser der nur wenige Meter entfernt fließenden Spree zu riechen glaubte, machte sich Sorgen um die Zukunft. Vor allem aber machte er sich Sorgen um Klara.
Am Morgen war er mit Margarete ins Krankenhaus gegangen. Schwester Hedwig hatte ihnen beiden mit müdem Blick die Diagnose verkündet. Klara hatte eine Schwangerschaftsvergiftung. Sie würde im Krankenhaus bleiben und dort auch entbinden müssen. Die Schwester hatte die beiden in das Krankenzimmer geführt, in dem noch elf andere Frauen lagen. Klara war ein Häufchen Elend. Sie wollte nicht im Krankenhaus bleiben. Aber sie war zu schwach, um sich durchzusetzen. Blass und klein hatte sie in ihrem Krankenhausbett gelegen. Kappe war sie vorgekommen wie eine rätselhaft aufgeschwollene Puppe. Während er vor Sorge und Nervosität ganz stumm gewesen war, hatte Margarete geplappert wie ein Wasserfall. Es war ihr tatsächlich gelungen, ein kleines Lächeln auf Klaras Gesicht zu zaubern. Kappe war ihr in diesem Moment unglaublich dankbar gewesen. Dann war Klara eingeschlafen, und Schwester Hedwig hatte sie aus dem Zimmer geholt. Kappe, der dienstfrei hatte, war nichts anderes übriggeblieben, als nach Hause zu gehen. Ins Büro, wo er wahrscheinlich auf Galgenberg getroffen wäre, hätten ihn keine zehn Pferde gebracht. Margarete hatte noch zu einer Sitzung gemusst und sich verabschiedet.
Kappe hatte schlechtgelaunt in der ungeheizten Wohnung gesessen, an Klara und das Kind gedacht. Er hatte sich Vorwürfe gemacht, sich zu viel um sein eigenes Wohlergehen gesorgt zu haben, wenn er, statt auf den Schleichhandel zu gehen, um Lebensmittel und Kohle zu erstehen, Klara vertröstet hatte. Seine Angst, als Beamter von den Kollegen des Kriegswucheramtes erwischt zu werden, war zu groß gewesen. Sogar wenn Klara selbst losgezogen war, hatte er ihr Vorhaltungen gemacht. Sein schlechtes Gewissen war wie ein übelwollender Verwandter, der ihm alle seine kleinen und großen Verfehlungen ins Ohr zischte. Er war sich lächerlich und kleinlich vorgekommen. Gerade als er sich in Selbstvorwürfen zu verlieren drohte, hatten Margarete und Trampe geklingelt und ihn mit fürsorglicher Gewalt gezwungen, sie zum Zirkus Busch zu begleiten, wo der Rat der Volksbeauftragten gewählt werden sollte. Beide trugen rote Armbinden, auf denen das Wort Arbeiterrat aufgedruckt war.
Die Sonne schien, und Kappe war mit ihnen durch ein brodelndes Kreuzberg bis zum Bahnhof Jannowitzbrücke gelaufen, die Straßen vollgestopft mit Arbeitern, die ebenfalls zum Zirkus Busch wollten. Die drei hatten sich in die S-Bahn gesetzt und waren bis zum Bahnhof Börse gefahren. In der S-Bahn hatte Margarete mit Trampe Streit darüber angefangen, dass die Mehrheitssozialisten die Revolution im Keim ersticken wollten. Kappe hatte fast den Eindruck,