Schlacht um Sina. Matthias Falke
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Der Kanzler hörte mir wohlwollend und konzentriert zu, aber er machte den Anschein, als rede ich in einer ihm nicht geläufigen Sprache. Er hatte die Ochsentour durch die Zivilverwaltung gemacht. Weiter als bis zu den Mondstationen und den Marsbasen war er nie gekommen. Er konnte sich unter den Räumen jenseits des Asteroidengürtels genauso wenig vorstellen wie unter einem generatorgestützten, phasenverschobenen Warpantrieb. Als Mann des Volkes, der er im Grunde war, war er froh, dass die Seuchen abgeklungen waren und dass die Ernährung der Bevölkerung wieder sichergestellt war. Er empfand Erleichterung darüber, dass die Ringe, die aus dem Jupiterdurchgang hervorgegangen waren, sich stabilisiert hatten und dass der Meteoritenregen, den sie anfänglich gespeist hatte, zurückging. Auf seine defensiven Maßnahmen, von deren Entschlossenheit wir uns hatten überzeugen können, war er zu recht stolz. Alles weitere überstieg seinen Horizont. Er war im Inneren seines Herzens ein bodenständiger Mensch, der schlechterdings nicht glauben wollte, was ich ihm an Bedrohungsszenarien an die Wand malte. Er hatte im Leben keinem Sineser gegenübergestanden, und obwohl er selbst dieser Partei nicht angehörte, wusste er, dass es eine wachsende Fraktion von Leuten gab, die schlechterdings leugneten, das Jupiter-Ereignis stünde überhaupt in einem kausalen Zusammenhang mit Handlungen, die von Sina ausgegangen seien. Dass Sina nie die offizielle Verantwortung für die Attacke übernommen hatte, erwies sich von hier aus als genialer Schachzug. Tragischerweise waren es die potentiellen Opfer, die darauf hereinfielen und die sich noch etwas darauf zugute hielten.
Ich musste meine gesamte Überredungskunst aufbieten, um ihn davon zu überzeugen, dass Sina existierte und dass dort keine guten Menschen wohnten. Glücklicherweise kamen mir nicht nur Gordon Kauffmann, sondern auch einige der anderen Adjutanten und Sekretäre des Kanzlers zuhilfe, die der Auseinandersetzung gefesselt folgten. Ich vermutete, dass auch sie von ihren eigenen Beweggründen getrieben wurden. Sie standen dem militärischen Stab näher als dem zivilen und erhofften sich etwas für ihre eigene Karriere, oder sie hatten einen Onkel, der eine Fabrik für Torpedoplasma betrieb. Das alles konnte mir gleichgültig sein, solange es meine Position stärkte. Kauffmann kannte sich hier besser aus, und er wusste es geschickt zu benutzen. Ich merkte es daran, wie er einzelne Berater des Kanzlers mehr ins Gespräch zog, während er anderen das Wort abschnitt. Das meiste, was dabei hinter den Kulissen ablief, musste mir verborgen bleiben. Ich legte auch keinen Wert darauf, in die persönlichen Intrigen eingeweiht zu werden, die bei einem solchen Vorgang auch noch alle berücksichtigt werden mussten.
Am Ende kam ein klassischer Formelkompromiss heraus. In der Präambel des Papiers, das dazu aufgesetzt wurde, wurde der rein defensive Charakter unserer Maßnahmen hervorgehoben. Der Kanzler übergab mir weitreichende Kompetenzen, und ich verpflichtete mich, diese einzig zur Beförderung des Friedens und zum Wohle der unierten Menschheit zu benutzen. Dann kam das Kleingedruckte. Mir wurde das sinesische Shuttle, die ENTHYMESIS, sowie die Hälfte der Jägerflotte unterstellt. Ihr offizieller Auftrag war es, in die Eschata-Region verlegt zu werden, um die dort neu gegründeten Kolonien zu sichern. Für den Konvoi selbst bekam ich außerdem das zeitlich befristete Kommando über zwei schwere Transporter und, als Geleitschutz, ein Schlachtschiff, das vor einiger Zeit in den Asteroidenwerften vom Stapel gelaufen war. Diese letzten Schiffe mussten am Ende der Mission in den erdnahen Raum zurückgeschickt werden. Gelesen und gezeichnet: der Kanzler und ich.
»Das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt hätte«, sagte Jennifer, als ich am Abend zu Tode erschöpft neben ihr ins Bett fiel. »Dass ein Teil der Jägerstaffeln hier bleibt, deckt sich mit meinen Absichten. Schließlich müssen wir auch an den Tross denken.«
Der »Tross«, das war die Erde, das Sonnensystem, unsere Heimat und unser Rückzugsgebiet, unsere Basis, von der wir schon so lange abgeschnitten gewesen waren. Seit sie sich in strategischen Planungen erging, gewöhnte sie sich ein militärgeschichtliches Vokabular an. Nicht nur ihr Vater, der alte Ash, war ein begeisterter Hobby-Historiker gewesen, der seine Pensionszeit zur Abfassung eines anerkannten Standardwerkes über die Punischen Kriege genutzt hatte, auch sie hatte dieses Faible nie verleugnet. Als Jugendliche hatte sie sich kreuz und quer durch die umfangreiche althistorische Bibliothek ihres Vaters gelesen, sie entdeckte ihre Leidenschaft jetzt wieder und verschlang Dutzende von alten Chroniken und Militaria. Ihr Jargon troff von Wörtern wie Nachschublinien und Flankenbildung, Zentrum und Keil, Flügel und Hauptmacht, Versorgung und Durchstoß. Und eben Tross. Sie saß stundenlang über ihrem MasterBoard, auf dem sie kleine Symbole hin und her schob. Eine blaue Spindel war ein Jagdgeschwader. Ein rotes Dreieck war ein Schlachtschiff. Ein langer gelber Balken war die MARQUIS DE LAPLACE. Sie konfrontierte mich mit Details aus der Kriegsgeschichte. Waterloo, Cannae, Issos, Tannenberg gingen ihr wie Alltagsbegriffe von den Lippen. Ihr Codename für das, was sie in bezug auf die Sineser ausheckte, war kein geringerer als »Gaugamela«.
In den nächsten Tagen forcierten wir unsere Anstrengungen noch. Die Vollmacht in der Tasche, ging es nun darum, das alles auch in die Tat umzusetzen. Jennifer verbrachte jede freie Minute in den unterirdischen Hangars, wo sie den Teil der Flotte auswählte, der uns nach Eschata begleiten sollte. Mit den Technikern sprach sie die Reprogrammierung der Warpgeneratoren durch. Glücklicherweise ließ diese sich zentral bewerkstelligen und von der Automatik auf viele Einheiten überspielen. In improvisierten Seminaren unterwies sie die Piloten im Gebrauch der neuen Technologie. Die wenigsten konnten sich darunter etwas vorstellen. Sie waren an Simulatoren ausgebildet worden und fieberten dem Augenblick entgegen, da sie zum ersten Mal in den Orbit aufsteigen würden. Dennoch waren sie begeistert bei der Sache, und es meldeten sich mehr Freiwillige, als wir in unserem Geschwader unterbringen konnten.
Derweil kümmerte ich mich um den Rest unserer Armada. Auch auf dem Mars standen Mannschaften und Maschinen, die mir unterstellt werden würden, und der Marschbefehl musste auch an die Asteroidenwerften übermittelt werden, die die großen Schiffe ebenfalls auf erweiterten Warp umrüsten mussten. Dazu bedienten wir uns eines Kommunikationsverfahrens, das die Zivilregierung in den Jahren seit dem Jupiter-Ereignis entwickelt und mittlerweile zur Perfektion gebracht hatte. Ich lernte aus all’ dem, dass das Verhältnis zu den Sinesern und ihren Überwachungssonden doch nicht so blauäugig war, wie es mir während der Verhandlungen geschienen hatte. Immerhin hatte man es fertiggebracht, ein beachtliches Flottenbauprogramm in die Tat umzusetzen, ohne sinesische Gegenmaßnahmen zu provozieren.
Zur Übermittlung von Nachrichten an die Marsbasen und die anderen extraterrestrischen Stellen bediente man sich alter, längst vergessen oder ausgestorben geglaubter Sprachen und Dialekte. Da man davon ausging, dass der gesamte Funkverkehr von den sinesischen Warpsonden abgehört und in Sina City ausgewertet wurde, musste man sich etwas einfallen lassen, um militärisch und logistisch brisante Mitteilungen zu verschlüsseln. Und da man ebenfalls davon auszugehen hatte, dass die sinesischen Experten jeden mathematischen Schlüssel knacken würden, besann man sich anderer Kommunikationsmöglichkeiten, deren Strukturen gewachsen und daher nicht algorithmisch zu dechiffrieren waren. Das waren die vielen Sprachen und tausende von Dialekten, die es einmal auf der Erde gegeben hatte, ehe das Unierte Englisch diesen Wildwuchs in einem groß angelegten Heckenschnitt beseitigt hatte. Freilich war es nicht damit getan, dass man alte Wörterbücher und Grammatiken aufstöberte, die sich in der Library of Congress oder in irgendeinem Regionalarchiv hätten finden lassen. Man hätte auch sie übermitteln müssen und dem Gegner damit den Schlüssel geliefert. Es mussten Muttersprachler sein, und das zu einer Zeit, in der die Menschheit durch den Jupiter-Durchgang dezimiert und verelendet war und in der die Union seit mehr als zwei Jahrhunderten eine kulturelle Gleichschaltung durchgeführt hatte. Das Verkehrsenglisch hatte die lokalen Sprachen und Literaturen beinahe vollständig verdrängt, und in den Jahren unmittelbar nach der Katastrophe war das Interesse an ausgestorbenen Dialekten naturgemäß noch sehr viel geringer. Man hatte anderes zu tun.
Es war der geniale Einfall des Kanzlers – oder eines seiner Berater, dessen Namen man nie erfahren würde