Kalte Zukunft. Benjamin Blizz

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Kalte Zukunft - Benjamin Blizz

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Wagner in dem Quartier aufhielt, lief er unter Umständen direkt in eine Falle.

      Aber er war nicht so weit gekommen, um jetzt einen Rückzieher zu machen.

      Ohne einen weiteren Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden, stürmte Shane in das Quartier – doch statt Wagner beim Durchsuchen zu überraschen, blickte er nur in ein leeres, wenn auch chaotisches Zimmer. Bücher waren aus den Regalen gerissen worden, Speicherdiscs lagen hüllenlos auf dem Boden und auch das restliche Mobiliar war offensichtlich auf den Kopf gestellt worden. Wagner war zweifelsohne hier gewesen und höchstwahrscheinlich hatte er auch gefunden, wonach er gesucht hatte.

      Wie hatte er nur geschafft, alles innerhalb weniger Minuten so gründlich zu durchforsten? Gedankenverloren hob Shane eine der zwei Zoll großen und grünlich schimmernden Discs auf, die in diesem Fall wohl, wie der Titel verriet, Lehrmaterial einer Universität enthielt. Dabei trat er versehentlich auf eine weitere Disc, die aber glücklicherweise weder zersprang noch sonstige Beschädigungen aufwies. Die Discs, die unter der Bezeichnung ›Laser Data‹ auf den Markt gekommen waren, hatten mittlerweile sämtliche Speichermedien, die es vorher gegeben hatte, abgelöst. Im Vergleich mit älteren USB-Sticks oder der guten alten DVD bestachen sie vor allem durch ihre fast absolute Robustheit. Weder Wasser, Hitze, Kälte, noch Stöße oder sogar schwere Belastungen wie Shanes Fußtritt konnten einer solchen Disc etwas anhaben. Vor allem deswegen hatte sie sich auf dem Markt durchgesetzt und nicht, wie einstmals vermutet, die schmalen Sticks.

      Shane drehte sich um, bereit, den Raum wieder zu verlassen - doch neben der Tür, in einem toten Winkel, stand lässig angelehnt Dirk Wagner. In seiner rechten Hand hielt er einen futuristisch anmutenden Gegenstand, sehr wahrscheinlich eine Waffe. Sie war aus mehreren Stücken verschiedener Materialien zusammengesetzt und überaus eindrucksvoll. Ihr Lauf deutete direkt auf Shanes Brust.

      »Ich hoffe, Ihre Neugier ist nun befriedigt. Ein Mann wie Sie stirbt doch sicherlich nicht gerne mit dem Gefühl, das Wichtigste verpasst zu haben«

      Shane war zu geschockt, um auf Wagners Drohungen zu reagieren. Er hatte sich tatsächlich in Sicherheit gewägt, nicht damit gerechnet, dass ihn Wagner die ganze Zeit aus einem Schlupfwinkel beobachtete. Der Deutsche war in seine Muttersprache verfallen.

      »Im Kontrollzentrum habe ich Sie verschont, Sie waren keine wirkliche Bedrohung für meinen Auftrag. Aber ich kann nicht zulassen, dass Sie mich mit Bagdshira in Verbindung bringen! Sie können mir glauben, das Ganze bereitet mir keine Freude. Ich werde Sie nicht unnötig leiden lassen. Jetzt drehen Sie sich um!«

      Wagner fuchtelte mit der improvisierten Kanone Marke Eigenbau herum und bedeutete Shane, sich auf das Bett zu setzen, das mit einer hellen Tagesdecke bespannt war. Der Assistent trug eine dunkle Hose aus dünnem Leinenstoff sowie eine dazu passende Strickjacke, aus deren Bauchtasche etwas hervorblitzte – eine Laser Data Disc. Danach hatte Wagner also gesucht, nach einer Disc, die mit ziemlicher Sicherheit brisante Daten enthielt. Doch welche Rolle spielte Yusuf Bagdshira dabei?

      »Da sitzen bleiben«, sagte Wagner, während er mit der freien Hand etwas in sein Smartphone tippte. Endlose Sekunden vergingen, in denen Shane seine Chancen, lebend aus der Situation herauszukommen, drastisch schwinden sah. Wagner steckte sein Smartphone in die Hemdtasche und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. »Kommen Sie, wir machen einen kleinen Spaziergang!«

      Shane tat wie ihm geheißen. So wie die Dinge lagen, bestand für ihn nicht die geringste Chance, den vermeintlichen Auftragsmörder zu überwältigen. Wagner verstand offenbar sein Handwerk und hielt konstant einen Abstand von mindestens zwei Metern; eine Distanz, die bei Weitem nicht ausreichte, um sich schnell herumzudrehen und seinen Gegner zu entwaffnen. Diese Machtlosigkeit war das Schlimmste an der ganzen Situation: dem Gegner schutzlos ausgeliefert zu sein, den eigenen Tod vorausahnend.

      Als sie die nach unten führende Treppe erreichten, spürte Shane unterbewusst die Anwesenheit einer weiteren Person. Ob sich Fritzsch wieder erholt hatte? Wagner schien davon nichts mitzubekommen, immer wieder warf er hektische Blicke auf sein Smartphone. Was ihm kurz darauf zum Verhängnis werden sollte! Als sie die Hälfte der Treppe hinter sich gelassen hatten, geschah es. Wagner wurde nach vorne gestoßen, überschlug sich und stürzte an Shane vorbei die Treppe hinunter, wobei er gequält aufschrie.

      Shane wirbelte herum. Oben, am Treppenabsatz, stand der junge Sicherheitsbeamte, der ihnen vorhin die Schutzausrüstung gebracht hatte. Lässig schwenkte er eine schwere Taschenlampe, die er Wagner von hinten über den Kopf gezogen hatte. Shane, der sich bereits mit seinem Schicksal abgefunden hatte, atmete erleichtert auf.

      Williams grinste ihm stolz zu, merkte jedoch nicht, dass sich Wagner noch regte. Shane sah es kommen, schrie warnend auf, doch Williams war zu langsam. Stöhnend hob Wagner seine Waffe und schoss! Dann sackte er wieder in sich zusammen.

      Der Schuss klang kreischend, so wie ein Luftpfeifer in der Silvesternacht, nicht zu vergleichen mit einem Schuss aus einer herkömmlichen Pistole. Das Projektil traf Williams in die Brust und fegte ihn von den Beinen.

      Shane eilte zu ihm, riss mit einer einzigen Bewegung seinen Overall entzwei und presste ihn auf die Wunde, doch das Blut quoll erbarmungslos darunter hervor. Die Brust des jungen Mannes und das provisorische Verbandszeug färbten sich dunkelrot. Aus den Mundwinkeln liefen ebenfalls kleine rote Rinnsale. Für Williams kam jede Hilfe zu spät. Sein Körper zuckte noch einige Male, dann wurde er ruhig, unnatürlich ruhig.

      Shane konnte seine Tränen nicht zurückhalten, der Schock setzte augenblicklich ein. Hysterisch versuchte er, einen nicht existenten Puls zu fühlen, einen nicht existenten Atem zu spüren, doch da war nichts außer dem tiefen Brummen der Aggregate.

      Erst als ein zweites Geschoss dicht neben ihm in den Boden fuhr und den Beton aufspritzen ließ, realisierte er, dass die Gefahr noch nicht gebannt war. Wagner lebte und hatte noch immer, wenn nicht sogar noch entschlossener das Ziel, Shane zu töten.

      Auf einer der Treppenstufen blitzte etwas auf: die Disc. Sie musste Wagner aus der Tasche gefallen sein, als ihn Williams attackiert hatte. Shane griff danach, sprang auf und rannte los.

      Der schnelle Sprint und die Unterversorgung mit Sauerstoff forderten ihren Tribut. Shane begann zu keuchen. Er wurde langsamer. Verzweifelt warf er im Laufen kurze Blicke über die Schulter, doch von seinem Verfolger fehlte jede Spur. Dann sah er unter sich eine Bewegung. Wagner rannte genau unter dem Glastunnel zwischen den Solarkollektoren hindurch.

      Kapitel 17

      Schwer atmend erreichte Shane die massive Stahltür zum Hotel und hämmerte mit letzter Kraft dagegen. Unverzüglich wurde ihm geöffnet und ein Dutzend Augenpaare musterten ihn besorgt.

      »Fritzsch ist verletzt, er braucht Hilfe!«, sagte Shane noch, bevor ihn ein Hustenanfall durchschüttelte.

      »Was ist mit Williams?«, fragte ein Sicherheitsmann besorgt. »Er wollte nach Ihnen sehen, geht es ihm gut?«

      Shane schüttelte den Kopf. »Holen Sie mir einen der Verantwortlichen, schnell!«, krächzte er. »Wir haben ein Problem.«

      Die Betonung seiner Worte war eindeutig und der Sicherheitsmann eilte ohne weitere Nachfrage davon. Shane ließ sich japsend zu Boden sinken, wo ihm Wasser und ein Handtuch gereicht wurden, mit dem er sich den gröbsten Schweiß aus dem Gesicht wischte. Er zitterte. Jeder Muskel seines Körpers schmerzte und die Schmerzen wurden zusehends intensiver. Das Adrenalin, das bis eben noch durch seine Blutbahnen gerauscht war, verflog und hinterließ nichts außer physischer Qual. Für eine gewisse Zeit konnte der menschliche Körper jegliche äußere Einflüsse ignorieren und Kraftreserven mobilisieren, von denen man sonst nur geträumt hätte. Was danach auf einen wartete, war jedoch umso unangenehmer.

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