Zwei gegen Ragnarøk. Hans-Jürgen Hennig
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„Hilda, dann bekommst du dein Rabenei und kannst es selber ausbrüten.“ Dabei grinste Alfger so schelmisches über das ganze Gesicht, dass Hilda ihn am liebsten einen Kuss gegeben hätte. „Hilda, wo willst du denn dein Nest bauen, auch in den Felsen, oder auf einem Baum?“
Hilda guckte verdutzt. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ui, da muss ich mir aber etwas einfallen lassen. Na auf einem Baum kann ich ja wohl nicht brüten, weil ich wahrscheinlich nachts runterfallen würde und wie man ein so großes Nest baut, in das ich auch reinpasse, weiß ich auch nicht, oder du hilfst mir dabei?“ Nun grinste sie frech in Alfgers Gesicht, dass er große Augen machte.
„Ich glaube, ich werde einfach zu Hause, auf meinem Lager brüten, das ist es weich und warm.“
Hilda rief plötzlich aus: „Seht doch, ist das nicht ein wunderschöner Tag; Vogelgezwitscher, Blumenduft und Sonnenschein!“
„Aber achte trotzdem auf den Weg“, riet ihr Alfger.
„Doofkopp“, antwortete Hilda und lachte ihn an.
Überall blühten Kräuter und Büsche am Wegesrand, und um sich die Zeit auf dem langen Weg zu vertreiben, zupfte sie hier und da eine Blume und nach einiger Zeit Fußmarsch hatte sie sich einen wunderschönen, bunten Blütenkranz geflochten.
Als sie wieder zu den Jungen aufschloss und neben Alfger anlangte, schaute sie ihm mit einem breiten Lächeln ins Gesicht, damit er ihren Blumenkranz bewundern sollte. Alfger schaute auch und war beeindruckt; Hilda war für ihn wunderschön. „Da würde ja sogar Freyja neidisch werden, wenn sie dich jetzt sähe“, sagte er anerkennend. Auch Falki nickte bestätigend und zwinkerte Hilda zu.
Dann verfielen sie wieder schweigend in ihren schnellen Schritt, und so legten sie, in kürzester Zeit, eine lange Wegstrecke zurück.
In das anhaltende Schweigen hinein rief Alfger: „Falki, warum haust du denn laufend mit deinem Knüppel gegen jeden Baum, du verscheuchst ja alle Tiere.“
Falki schaute betroffen drein und brummelte: „Entschuldigung, das war mir gar nicht so bewusst, dass ich hier herumklopfe, wie ein Specht, aber schaut mal, da vorne sind ja schon die Felsen.“
Wie selbstverständlich war Alfger der Anführer ihrer Gruppe und gab Handzeichen, stehen zu bleiben. „Wir werden erst mal eine Weile, beobachten, was die Raben so treiben und dann holen wir uns das Ei.“
„Gibt’s hier Bären?“, fragte Hilda plötzlich ängstlich. Die Jungen schauten sich an und zuckten die Schultern.
Alfger meinte: „Doch, ich glaube, dass Ragnar hier im vergangenen Jahr einen Bären erlegt hatte. Das ganze Dorf hat doch darüber gesprochen. Er hat ihn ganz alleine, mit dem Speer, erlegt und dann stolz das Fell herumgezeigt.“
„Ja, ich weiß, sagte Falki, aber bist du sicher, dass das hier war?“
„Ich glaube schon, denn er hatte ja die Drei erwähnt, und vor denen stehen war ja jetzt“, flüsterte Alfger und zeigte auf die Felsen, die wie drei Finger aus dem Felsmassiv herausragten.
Er hob seinen Speer, um zu zeigen dass er keine Angst hatte. „Hilda, wieso fragst du das überhaupt?“
Hilda schaute ihn mit großen Augen an und flüsterte: „Da war Etwas. Ich habe was gehört und auch etwas Dunkles dort in dem Schlehengebüsch verschwinden sehen, und es war groß.“ Sie deutete auf eine dichte Schlehenhecke, die etwas dreißig Schritte vor ihnen wuchs.
Die beiden Jungen schauten sich mit unsicheren Blicken an und Falki fragte: „Ob mein Bogen ausreicht, einen Bären zu erlegen?“
„Wenn dein erster Schuss richtig trifft, ja, aber wenn nicht, müssten wir uns Flügel wachsen lassen“, meinte Alfger. „Aber ich bin ja auch noch da“ – und er hob demonstrativ seinen Speer.
Falki wusste: Unter den jungen Leuten im Dorf war Alfger der beste Speerwerfer. Seine Speere verfehlten nie ihr Ziel und weit konnte er auch werfen. „Wir werden uns doch hier nicht von einem Bären verscheuchen lassen. Hilda und Falki, ihr habt die schärfsten Ohren, passt einfach auf.“
Einen Augenblick später standen sie vor den Felsen und schauten suchend in die Höhe. Falki zeigte auf die Stelle, wo sich der Rabenhorst befand. Obwohl sich die drei Abenteurer still verhielten, waren sie von den Rabeneltern doch entdeckt worden. Ein Rabe begann mit lautem „Arrr, arrr“ über ihren Köpfen zu kreisen, während der andere auf dem Nest sitzen blieb und ebenfalls laut rief.
„Da wollt ihr hinauf“, flüsterte Hilda, „das ist ja unheimlich hoch und steil, uui.“ Sie schaute etwas ängstlich in die Felswand und kratzte sich ungläubig am Kopf, wobei ihr der Blumenkranz herunterrutschte. „Macht nichts“, dachte sie, „den brauche ich jetzt nicht mehr.“
„Wir schaffen das schon meinte Alfger. Dein Bruder ist ja der beste Kletterer, und ich bin der beste Kletterhelfer. Stimmt’s, Falki?“
Falki schaute etwas komisch drein. „Na, wenn du meinst.“
Hilda stellte sich auf einen riesigen Felsblock, um die Gegend besser beobachten zu können und da er riesig und flach war, breitete sie ihr Gepäck um sich herum aus.
„He, ihr beiden tapferen Kletterer, wollt ihr nicht vorher etwas essen und euch für die anstrengende Kletterei stärken? Schaut mal, ich habe hier im Korb eine Menge leckeres Zeug gefunden. Hast du das alles eingepackt, Alfger?“
„Na gut, dann essen wir erst etwas. Nein, das hat alles meine Mutter eingepackt. Die hat immer Angst, dass ich verhungere. Falki komm, setzen wir uns zu Hilda und stärken uns.“
Einen Augenblick später saßen sie im Kreis um den Korb und ließen es sich gut schmecken. Alfgers Mutter hatte reichlich eingepackt: Kalten Brei mit Früchten, etwas Brot, Trockenfisch, Äpfel und sogar etwas Fleisch war dabei.
Inzwischen war das Wetter wieder so, wie es immer üblich war, mit einem Himmel voller Wolken. Die Sonne blinzelte nun nur noch durch die Wolkenlücken, aber es war trotzdem warm. Um sie herum herrschte Stille, kein Baum knarrte, kein Laub raschelte, nur ab und zu ein Piepen aus den Wipfeln der Bäume. Irgendwann war auch kein Vogelgezwitscher mehr zu hören. Diese absolute Stille kam Hilda sehr sonderbar und schon fast unheimlich vor. Sie neigte laufend ihren Kopf in alle Richtungen, um besser hören zu können. Was sie vorhin gehört hatte und glaubte gesehen zu haben, kam ihr plötzlich wieder in den Sinn.
Die Jungen waren fertig mit dem Essen und wischen sich genüsslich den Mund. Falki legte seinen Kopf auf Hildas Knie und stöhnte wohlig: „Ach, hier kann man es aushalten. Kein Gegacker von Dorfhühnern, keine quälenden Eltern. Hier möchte ich bleiben.“
„Psst!“ machte Hilda. „Da ist es schon wieder, wie vorhin“, und sie zeigte, mit erregtem Gesicht auf einen Holunderbusch, der mitten im Schlehendickicht stand.
Da sahen die Jungen es auch: Ein fast schwarzer, Zottelpelz bewegte sich aufrecht im Schatten der Büsche. Nur ein ganz leises Rascheln der Blätter war zu hören. Das Wesen verharrte, bewegte sich dann aber weiter und kam langsam näher. Falki griff aufgeregt nach seinen Bogen. Alle drei schauten sich etwas ängstlich an. Das war kein Bär,