Crescendo bis Fortissimo. Manfred Eisner
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Читать онлайн книгу Crescendo bis Fortissimo - Manfred Eisner страница 4
„Ach, mein Schatz, es ist die augenblickliche Lage, die mir so sehr an die Nieren geht.“ Auch Heiko spricht ganz leise. „Wir rasen immer schneller dem Abgrund entgegen und es sieht so aus, als ob es niemand merkt. Und von denjenigen, die es zumindest ahnen, will es sich keiner eingestehen. Alle schreien vor Begeisterung Hurra und ich vermute, das Denken dieser Menschen ist wohl ausgerastet. Was ich da heute wieder gelesen habe ...“
„Ja, ich weiß. Und auch, wie du darüber denkst, wir haben uns ja schon öfter über dieses Thema unterhalten. Ich finde es ebenfalls sehr schlimm und all diese armen Menschen tun mir furchtbar leid. Aber unserer Familie droht doch keine Gefahr, oder?“
„Doch, Clarissa, aber ja!“
Clarissa legt ihre Hand vor Heikos Mund, weil sein Ausruf heftig und laut war. Er hält einen Moment inne und küsst ihre Finger. Clarissa lächelt und nickt ihm zu – eine stumme Aufforderung, seine Behauptung zu erläutern.
Heiko fährt in leisem, jedoch markantem Ton fort: „Begreifst du denn nicht, dass es hier um die elementarsten Menschenrechte geht? Ist dir nicht bewusst, dass das, was hier heute geschieht, ein gellend schreiendes Unrecht gegen alle Völker der Erde ist, für das wir Deutschen eines Tages, ob wir es gewollt haben oder nicht, ob wir aktiv mitgemacht oder es nur tatenlos geduldet haben, vor der Welt Rechenschaft werden ablegen müssen?“
„Ich fühle genau wie du, Heiko. Auch ich empfinde ein großes Unbehagen. Was ist nur in all diese Menschen gefahren? Nicht mal mehr ein freundliches ‚Guten Morgen‘ oder ein lächelndes ‚Guten Tag‘ beim Treffen mit Freunden und Bekannten ist noch drin. Nein! Bis heute kriege ich dieses primitive ‚Heil Hitler!‘ nicht über meine Lippen.“
„Wenn es nur das wäre!“, seufzt Heiko. „Das Ganze geht noch weiter, es kommt noch viel schlimmer. Jeder Deutsche muss jetzt den Beweis erbringen, dass er Arier ist! Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man über diesen Humbug schallend lachen!“
„Na, wenn uns nichts Schlimmeres passiert!“, witzelt Clarissa und versucht Heiko auf diese Weise aufzumuntern. Das Lächeln, das Heiko darauf erwidert, ist ein trauriges. „Ja, ja, für dich, Clarissa von Steinberg, du Prinzessin der madigen Erbse, ist das kein Problem. Da gibt es ja auch nicht den geringsten Zweifel an deiner Herkunft und dass in deinen Adern rein arisches Blut fließt! Außerdem ist all dies einfach zu belegen. Aber wie sieht es für mich, den Heiko Keller, aus?“
Pause.
Mit ernstem Blick sieht Clarissa ihren Mann an. Auch Heikos Mutter war eine von Steinberg, eine Cousine des Papas. Trotz des Widerstands der Familie heiratete Elisabeth aus Liebe den Kunstmaler Oskar Keller, über den man nichts Genaues wusste – weder über seine Herkunft noch über seinen späteren Verbleib, hatte er doch Frau und Kind kurz nach Heikos Geburt genauso unauffällig verlassen, wie er einst auf der Bildfläche erschienen war. Elisabeth konnte diesen Kummer nicht bewältigen und nahm sich kurz darauf das Leben. Heiko wurde daraufhin von seiner Großmama, Tante Alexandra, aufgezogen.
„Ich verstehe, Deichkater. Du sorgst dich, weil du glaubst, dass es schwierig sein könnte, die Herkunft deines Vaters zu erforschen.“
„Ja, oder besser gesagt: nein! Es ist ekelhaft, so etwas überhaupt tun zu müssen, verstehst du? Wäre ich denn ein anderer, ein schlechterer Mensch, wenn sich herausstellen sollte, dass mein Vater kein reiner Arier gewesen ist?“
„Natürlich nicht ...“ Clarissa hält inne, als Silke mit dem Teeservice hereinkommt.
„Ist die gnädige Frau damit einverstanden, wenn ich schon jetzt den Tee serviere? Weil ich doch heute noch ausgehen müsste, das heißt, wenn Sie nichts dagegen hätten.“
„Ist schon gut, Silke, servieren Sie jetzt den Tee und danach können Sie sich gern den Rest des Abends freinehmen.“ Clarissa hilft ihr beim Verteilen des Geschirrs.
„Danke, gnädige Frau.“
„Wo soll’s denn hingehen, Silke?“, fragt Heiko, während sie seine Tasse mit dem bernsteinfarbenen Aufguss füllt.
„Zum Heimabend beim BDM.“
„Ach so, natürlich, da dürfen Sie keineswegs fehlen!“, entfährt es Heiko wie aus einer Pistole geschossen. Häme schwingt in seiner Stimme mit. Bund Deutscher Mädchen! Diese dämonischen Verführer machen auch vor der noch unschuldigen Jugend keinen Halt.
Nachdem Clarissa zunächst Heiko einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen hat, sieht sie besorgt auf Silkes Gesicht, um zu erspähen, wie das Hausmädchen seine unvorsichtige Bemerkung aufgenommen haben könnte. Silkes klarer, aufrichtiger Blick jedoch beruhigt sie.
„Na ja, dann wünsche ich ’ne gute Nacht. Heil Hitler!“, sagt das Mädchen, während es das Wohnzimmer verlässt.
„Gute Nacht, Silke.“
Das Ehepaar bleibt in der Stille sitzen, bis ein Geräusch verrät, dass gerade die Haustür ins Schloss fällt. Endlich sind sie allein.
„Heiko, du darfst nicht ...“
„Ich weiß, Clarissa, du hast recht, aber manchmal überfährt es mich und ich kann einfach nicht an mich halten!“
„Mein lieber Herr Gemahl, du wirst lernen müssen, dich zu beherrschen, oder du bringst dich und deine Familie in größte Gefahr. Denk doch an die Kinder!“
„Natürlich hast du recht, Prinzessin! Es bleibt mir leider keine andere Wahl, als mich zukünftig im Kuschen und Duckmäusern zu üben. Denn trotz meiner Überzeugung und meiner Verachtung für diese germanischen Götter des Unheils kannst du mir das eine glauben: Überleben will ich – koste es, was es wolle! Und dass ich jegliches Unheil von meiner geliebten Familie fernhalten möchte und werde, brauche ich dir wohl nicht zu versichern, oder?“ Zärtlich nimmt Heiko seine Clarissa in die Arme und küsst sie liebevoll auf Augen, Nasenspitze und Mund.
2. Rückblende
Clarissa betritt den kleineren Raum im Erdgeschoss – ihr eigenes Zimmer und Privatsphäre in diesem Hause. An den Wänden hängen die Bilder, die sie am meisten liebt. Bis auf eines sind sie alle von Heiko gemalt worden, lange bevor sie sich in ihn verliebt hat. Ein Bildnis zeigt Onkel Suhl, genauso portraitiert, wie ihn ihre Erinnerung festhält: ein verschmitztes Lächeln mit ironischem Blick, schneeweißes Haar, ein spitzes Bärtchen.
An der Wand gegenüber ein kleineres Bild mit schwarzem Rahmen. Es zeigt einen schönen, rötlichen Vogel, der in den blauen Himmel fliegt. Unten, auf der Erde, sitzt ein kleiner Junge im Schatten eines Baumes und beobachtet den Flug des Vogels. Am unteren Bildrand steht in schwarzer Schrift: „Neid“. Es war damals Heikos größte Sehnsucht, in die weite, weite Welt hinauszuziehen. Jedes Mal, wenn Clarissa dieses Bild betrachtet, muss sie vergnügt an jenen Tag denken, an dem der Deichkater ihr erklärt hat, dass ihn nur ein ganz bestimmtes Ereignis von diesem Entschluss abbringen könne. Ach, wie war sie doch damals noch naiv, nicht gleich zu verstehen, was er damit ausdrücken wollte!
Eine Miniatur, die in einem verkupferten Rahmen hängt, ist das einzige Andenken, das Heiko von seinem Vater besitzt: Clarissas heißgeliebte Sommerwiese vor ihrem Elternhaus, voller bunter Blumen, die von einer strahlenden Sonne am tiefblauen Himmel beschienen werden. Es heißt, dass Heikos Vater und Mutter sich kennenlernten, während dieses Bild entstand.
Nach