Crescendo bis Fortissimo. Manfred Eisner
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Dr. Struwe stimmt nickend zu.
„Die neuen Gesetze, die der Führer zum Schutze des deutschen Volkes erlassen hat, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erläutern. Sie sind sicher mit mir einer Meinung, dass demzufolge ein für Oldenmoor so wichtiges Unternehmen wie diese Bäckerei unmittelbar in reine, deutsche Hände zu überführen ist und nicht weiter von einem dieser Untermenschen geführt werden darf. Da die Bäckerei andererseits voll funktionsfähig gehalten werden muss – das Stopfen vieler Münder hängt davon ab –, dachte ich daran, das Ganze in die Hände dieses Heiko Keller zu legen, der ein recht tüchtiges Bürschlein zu sein scheint. Jedoch ...“
Dr. Struwe fühlt in seinem Inneren das Aufkommen einer heimlichen Schadenfreude. „Ach so, Herr Ortsgruppenleiter, ich glaube zu verstehen. Sie hegen ernsthafte Zweifel an der rein arischen Herkunft dieses Heiko Keller?“
„Wohl, wohl, lieber Struwe. Auch das. Außerdem fällt unangenehm auf, dass er bisher nicht in die Partei eingetreten ist, obwohl ich ihn persönlich mehrmals dazu aufgefordert habe. Eine derart wichtige Funktion könnte selbstverständlich nur einer vollends vertrauenswürdigen Person übertragen werden.“
„Gut, Herr Ortsgruppenleiter. Ich werde meine Nachforschungen anstellen und Ihnen alsbald berichten.“
Nach erneutem Austausch der üblichen Grußformeln trennen sich die beiden Männer.
Als der Besucher fort ist, eilt Dr. Willibald Struwe mit beschwingtem Gang an ein Wandschränkchen und entnimmt ihm einen größeren Schlüssel. Mit diesem in der Hand geht er hämisch grinsend in Richtung Aktenkeller.
* * *
Silke kniet vor dem großen Regal in Heikos Arbeitszimmer und staubt die zahlreichen Bücher ab. Sie entnimmt jeweils einen Band und stellt ihn nach der Reinigung sorgfältig an seinen Platz zurück, bevor sie den nächsten reinigt. Ab und zu öffnet sie das eine oder andere Buch, blättert darin und legt es kopfschüttelnd zurück. Die verschiedenen Werke Tucholskys, Erich Mühsams, Remarques, Kellermanns und vor allem „Das Kapital“ von Karl Marx entgehen neben den zahlreichen Büchern in verschiedenen Fremdsprachen nicht ihrer Aufmerksamkeit.
Als das Hausmädchen seine Arbeit nach eineinhalb Stunden beendet hat, bleibt es für einige Augenblicke unentschlossen vor dem Regal stehen. Es geht an den Schreibtisch, entnimmt ein Blatt Papier aus einer Schreibmappe und einen Bleistift aus einem runden Topf. Danach geht Silke an das Regal zurück und beginnt jene Bücher aufzulisten, die ihr besonders aufgefallen sind.
Sie ist derart in ihre Arbeit vertieft, dass sie nicht bemerkt, wie sich hinter ihr die Tür öffnet und Clarissa im Türrahmen erscheint. Clarissa verharrt wie versteinert, als sie diese Szene wahrnimmt. Nach einigen Sekunden schließt sie sehr behutsam und leise die Tür. Sie ist unbemerkt geblieben.
Nachdem Silke die Auflistung vervollständigt hat, faltet sie das beschriebene Blatt Papier sorgfältig zusammen und versteckt es unter dem Kittel in ihrer Bluse. Sie legt den Bleistift an seinen Platz zurück und verlässt eilig das Arbeitszimmer.
* * *
„Ich mache mir große Sorgen, Annette.“
Während er diese Worte zu seiner Frau spricht, geht Hans-Peter von Steinberg im Esszimmer des Herrenhauses unruhig auf und ab, die Hände auf dem Rücken gefaltet. Der gut gekleidete, grau melierte Mittfünfziger mit den buschigen Augenbrauen macht ein sorgenvolles Gesicht.
„Weshalb, Hans-Peter? Was hast du?“
„Man hat heute in aller Herrgottsfrühe Friedrich Winkler, den Redakteur des Couriers, verhaftet.“
„Wieso, Hans-Peter, was hat er denn verbrochen?“
„Man weiß nichts Genaues. Alles nur Mutmaßungen. Ich habe es heute Vormittag von Detlef Bartels, dem Referendar in der Anwaltskanzlei von Dr. Looft, erfahren. Winklers Frau rief gegen neun Uhr sehr aufgeregt in der Kanzlei an. Zwei Männer der Geheimen Staatspolizei seien extra aus Berlin eingetroffen und hätten ihren Mann um sechs Uhr morgens geradewegs aus dem Bett verhaftet und mit unbekanntem Ziel mitgenommen. Bartels rief daraufhin Dr. Looft zu Hause an. Dieser machte sich sofort auf den Weg zu Frau Winkler, um Näheres zu erfahren. Viel soll dabei nicht herausgekommen sein. Nur dass man seine Papiere durchwühlt und verschiedene Bücher aus seiner Bibliothek konfisziert habe – mit der Bemerkung, es handele sich bei diesen um staatsfeindliche Werke. Als Winkler von den beiden Männern Aufklärung über den Grund seiner Verhaftung erbat, schlugen sie ihn brutal zusammen. Der eine brüllte: ‚Das wirst du noch früh genug erfahren, du verräterische Sau!‘ Und der Frau riet man, unbedingt zu schweigen, wenn ihr daran gelegen sei, ihren Mann wiederzusehen. Was sind das bloß für Zeiten, mein Gott!“
„Und was ist danach geschehen?“, murmelt Frau Annette sehr leise, ergriffen von der Schilderung ihres Gatten. Sie ist eine gutmütig anmutende, vollschlanke Frauengestalt und mit jener klassischen Schönheit gesegnet, der das wahre Alter kaum anzusehen ist.
Hans-Peter setzt sich in den Sessel am großen Eichentisch und erzählt: „Dr. Looft rief bei der hiesigen Polizei an. Zunächst tat man so, als ob man von der ganzen Angelegenheit nichts wisse. Als er später mit einem der Polizisten unter vier Augen sprach, gab dieser zu, etwas gehört zu haben – ganz inoffiziell, versteht sich. Ortsgruppenleiter Straßner hatte sich an einem Kommentar Winklers zu den Rassengesetzen im Courier gestoßen und sich daraufhin schriftlich an das Reichspropagandaministerium gerichtet, um bei Dr. Goebbels persönlich Beschwerde gegen Winkler einzulegen. Wahrscheinlich haben sie ihn deswegen abgeholt. Der Courier musste vorübergehend sein Erscheinen einstellen.“
Hans-Peter macht eine Pause. Er sieht seine Frau mit feuchten Augen an.
„Annette, ich beginne zu ahnen, dass ich – nein, wir alle – einen schwerwiegenden Denkfehler begangen habe, für den wir noch bitter bezahlen werden. Ich gebe zu, ich habe damals den Tag herbeigesehnt, an dem hier jemand an die Regierung kommt, der endlich wieder einmal für Recht und Ordnung sorgt, der jenem widerlichen und sinnlosen politischen Hin-und-her-Gerangel der Weimarer Republik ein Ende setzt. Ja, ich gebe auch zu, dass ich damals in Adolf Hitler jenen Mann sah, der dies schaffen könnte, und dass ich deswegen bei jeder Wahl meine Stimme für ihn abgegeben habe.“
Nach einer kurzen Denkpause fährt Hans-Peter fort: „Ich erinnere mich an die wütende Diskussion, die Heiko und ich am Tage der Machtergreifung führten, weil er mein Handeln wahnsinnig und verantwortungslos nannte. Heute muss ich kleinlaut zugeben, dass Heiko wahrscheinlich recht hatte. Er hat damals so ziemlich genau das vorausgesagt, was wir alle heute erdulden müssen: die totale und gnadenlose Unterwerfung eines jeden Menschen. Der Preis, der uns für solch eine Friedhofsordnung und für dieses Unrecht einmal in Rechnung gestellt werden wird, wird ungeheuerlich sein. Und das Schlimmste ist – und auch da muss ich Heiko heute recht geben –, dass kaum jemand gemerkt hat, wie ahnungslos das deutsche Volk in sein düsteres Schicksal hineingeschlittert ist. Da stehen sie bei jeder Gelegenheit und jubeln fanatisch jenen zu, die sie ins Verderben führen. Am Anfang habe auch ich mitgejubelt. Heute ist mir das Jubeln gründlich vergangen und mir wird jedes Mal schlecht, wenn diese Massenhysterie ausbricht. Die Wenigen, die noch klar denken und die bittere Wahrheit durchschauen und noch dazu den Mut aufbringen, laut zu warnen, werden als Volksschädlinge erbarmungslos beseitigt. Nach der damaligen Auseinandersetzung mit Heiko habe ich mir die Mühe gemacht, Hitlers ‚Mein Kampf‘ sehr aufmerksam zu lesen. Wenn der das alles in die Tat umsetzt, was er sich vorgenommen und darin niedergeschrieben hat, dann gnade uns Gott!“
„Konnte